94674:

Zahl der Todesopfer durch Unwetter in NRW und Rheinland-Pfalz bei mindestens 106

Dramatische Situation in Erftstadt - Weiter viele Vermisste

Infolge der Unwetterkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen sind mehr als hundert Menschen gestorben. Da die Lage auch am Freitag unübersichtlich blieb und weiter viele Menschen vermisst wurden, drohte noch ein weiterer Anstieg der Zahl der Toten. Auch im benachbarten Belgien starben mindestens 18 Menschen. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD) und der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), sprachen von einer Katastrophe historischen Ausmaßes.

Dreyer bezifferte die Zahl der Toten in Rheinland-Pfalz auf mindestens 60, ein Sprecher des Landesinnenministeriums sprach am Freitagnachmittag von mindestens 63 Toten. Darunter waren auch zwölf Bewohner eines Behindertenwohnheims in Sinzig, die nicht mehr evakuiert werden konnten und hilflos ertranken. Laschet bezifferte die Zahl der Toten in Nordrhein-Westfalen auf mindestens 43.

In beiden Bundesländern blieb die Lage in einigen Landkreisen unübersichtlich. Im besonders betroffenen rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler war etwa seit Donnerstagabend die Zahl der vermissten Menschen unklar. Der Landkreis selbst gab die Zahl mit 1300 an, darunter könnten aber viele doppelt gemeldete Menschen sein. Da das Mobilfunknetz und die Telefonleitungen ausgefallen waren, gab es keine Möglichkeit der telefonischen Kontaktnachverfolgung.

Ähnlich war es im südlich von Köln gelegenen Erftstadt. Dort spielten sich dramatische Szenen ab. Die über die Ufer getretene Erft unterspülte zahlreiche Häuser und brachte diese ganz oder teilweise zum Einsturz. Dazu kam es zu Erosion, wodurch größere Bodenbereichen einfach wegbrachen. Die Behörden gingen von mehreren Toten in Erftstadt aus, konnten dies aber auch im Lauf des Freitags nicht weiter beziffern. Die Polizei in Köln suchte nach 19 vermissten Menschen aus dem Raum Bonn/Rhein-Sieg-Kreis und 40 aus dem Raum Euskirchen.

Die Infrastruktur in den betroffenen Gebieten fiel zeitweise vollständig aus. Dazu kommen eine Reihe zerstörter oder nicht benutzbarer Straßen und Bahnstrecken. Allein die Polizei in Koblenz nannte 13 verschiedene Straßen, darunter die Bundesstraße 257 und sechs Landstraßen, die gesperrt oder streckenweise unbefahrbar waren.

Dreyer sagte nach einer Sondersitzung ihres Kabinetts, sie sehe die Lage noch nicht unter Kontrolle, es könne noch keine Entwarnung gegeben werden. "Das Leid nimmt heute so dramatisch zu", sagte Dreyer. Es sei "eine nationale Katastrophe". Die Einschätzung ihrer Landesregierung sei inzwischen, dass die Schäden "so dramatisch" seien, "dass wir noch lange Zeit mit dem Thema zu tun haben". Dabei bezeichnete sie die Lage auch als "Horror". "Da könnte man eigentlich nur noch weinen."

Laschet sagte, die Überschwemmungen in Westdeutschland seien eine "Flutkatastrophe von historischem Ausmaß". Die Zahl der Toten übertrifft mittlerweile um ein Mehrfaches die der sogenannten Jahrhundertflut aus dem Jahr 2002, bei der in Sachsen 21 Menschen starben. "Ein Jahrhundertunwetter hat unser Land getroffen", sagte Laschet nach einer Sitzung seines Landeskabinetts in Düsseldorf. Die Wassermassen hätten "undenkbare Schäden verursacht" und "weiträumige Evakuierungen" nötig gemacht.

Insgesamt waren in Nordrhein-Westfalen nach Regierungsangaben 25 Städte und Landkreise von Überschwemmungen betroffen. Laschet sagte, er fürchte, dass es mehr als die 43 Todesfälle gebe. Es werde "große finanzielle Anstrengungen brauchen". Konkret soll es laut Laschet zuerst eine Direkthilfe "für alle, die ohne alles auf der Straße stehen", geben. Zusätzlich soll es Hilfen für Härtefälle und Strukturhilfen für die betroffenen Kommunen geben. Auch der Bund habe Unterstützung zugesagt. "Um die Folgen der Flut zu bewältigen, wird Deutschland solidarisch zusammenstehen müssen."

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte, "das Ausmaß der Verwüstung" sei "nicht zu ermitteln". Es gebe auch noch immer viele Vermisste, die Lage sei sehr unübersichtlich. "Viele Menschen haben alles verloren, restlos alles verloren, was sie haben." Es seien mehr als 19.000 Helfer im Einsatz. "Jeder und jede, die anpacken kann, befindet sich seit Tagen im Dauereinsatz".

Der Rettungseinsatz in den besonders betroffenen Gebieten lief unter Hochdruck und auch mit Unterstützung von Rettern aus anderen Bundesländern sowie von der Bundeswehr. Inzwischen sind nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums mehr als 850 Soldaten und Soldatinnen bei den Unwettern im Einsatz - "Tendenz steigend". Die Bundeswehr half den Einsatzkräften vor Ort demnach unter anderem bei Evakuierungen sowie Räumungen mit Schlauchbooten und Krankenwagen.

by Bernd Lauter