Die Zahl der Streiks in Deutschland ist im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen - im langjährigen Vergleich bewegte sich das Arbeitskampfgeschehen aber "eher auf einem mittleren Niveau". Das ist die Bilanz der jährlichen Arbeitskampfbilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Experten erwarten in diesem Jahr einen weiteren Anstieg. Laut einer Umfrage der Stiftung hat jede und jeder sechste Beschäftigte hierzulande Streikerfahrung.
2022 beteiligten sich laut WSI-Bilanz 930.000 Beschäftigte an Streiks. 674.000 Arbeitstage fielen daher aus. Die meisten Streiks im vergangenen Jahr gingen auf "die hohe Zahl von Tarifkonflikten in einzelnen Betrieben" zurück, erklärte das WSI am Donnerstag. Bei den ausgefallenen Tagen fielen demnach hingegen vor allem die großen branchenweiten Tarifrunden ins Gewicht. Die umfangreichsten Streikaktionen gab es in der Metall- und Elektroindustrie. Auch bei den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen, im Sozial- und Erziehungsdienst und bei den Seehäfen gab es 2022 größere Arbeitskämpfe.
Der Untersuchung zufolge handelt es sich bei der "überwiegenden Mehrheit der Arbeitsniederlegungen in Deutschland" um Warnstreiks. Ein unbefristeter Erzwingungsstreik, die höchste Eskalationsstufe der Gewerkschaften, finde "seit längerem nur in Ausnahmefällen statt". Die Experten betonen, dass häufig "schon allein die glaubhafte Androhung eines Erzwingungsstreiks Bewegung in stockende Verhandlungen" bringe.
"Streiks sind in Deutschland nicht nur ein demokratisches Grundrecht der Beschäftigten, sondern auch ein normales Instrument der Konfliktregulierung, ohne das die Tarifautonomie nicht funktionieren würde", sagte Thorsten Schulten vom WSI. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland weiterhin im unteren Mittelfeld, wie das Institut betonte. Am meisten gestreikt wird den Angaben zufolge in Belgien, Frankreich und Kanada.
Laut der Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung haben in Deutschland 17 Prozent der Beschäftigten eigene Streikerfahrung - das ist jede oder jeder sechste Beschäftigte. Etwa die Hälfte davon hat auch mehrmals an Streiks teilgenommen. "Wenig überraschend", so das WSI, sei eine deutlich größere Streikerfahrung unter Gewerkschaftsmitgliedern. Zwischen Ost- und Westdeutschland gebe es mit 16 beziehungsweise 18 Prozent der streikerfahrenen Beschäftigten kaum mehr Unterschiede.
Für dieses Jahr rechnen die Experten mit mehr Streiks: Die bereits stattgefundenen Großstreiks bei Post, Bahn und Öffentlichem Dienst "deuten bereits in den ersten Monaten des Jahres 2023 darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen in diesem Jahr noch einmal zunehmen könnte".
pe/ilo