An einem Donnerstagabend Ende August versammelte sich eine Gruppe im Sushi-Restaurant Origami in Minneapolis. Eine der Gäste, eine 21-jährige Studentin der Universität von Minnesota, war in der Annahme gekommen, dass das Abendessen zu Ehren von Freiwilligen stattfand. Stattdessen fand sie sich inmitten von mehr als einem Dutzend männlicher chinesischer Führungskräfte wieder, die an einem Doktorandenprogramm teilnahmen, für das sie als Freiwillige gearbeitet hatte.
Einer dieser Männer war ein chinesischer Milliardär namens Charlie Yao, den sie in dieser Woche kennengelernt hatte. Charlie war derjenige, der sie zum Abendessen eingeladen hatte. Yao bat sie, neben Richard Liu zu sitzen, dem CEO des E-Commerce-Riesen JD.com und einem der reichsten Männer Chinas. Ihr männlicher Gast saß an einem anderen Tisch mit den Assistenten der Führungskräfte.
Am nächsten Morgen behauptete die junge Frau, sie sei von Liu in ihrer Wohnung vergewaltigt worden. Liu hat die Vorwürfe bestritten. Jetzt werfen Dokumente, die Aussage der Studentin bei der Polizei und ihre WeChat-Nachrichten an einen Freund mehr Licht auf die Geschehnisse in der Nacht des 30. Augustund auf die Rolle, die Charlie Yao dabei spielte.
Liu war in der Nacht des 30.
Liu hatte in Minneapolis an einem Doktorandenprogramm der Carlson School of Management an der Universität von Minnesota und der Tsinghua-Universität in China teilgenommen. Das Programm richtet sich an erfolgreiche chinesische Unternehmer. Der größte Teil der Kursarbeit findet in Peking statt. Zum Abschluss des Programms findet ein Aufenthalt in Minnesota statt. Charlie Yao, Vorsitzender der Jumbo Sheen Enterprises Group in Shenzhen, einer Gruppe zur Verwaltung von Aktienfonds, hat ebenfalls an dem Programm teilgenommen.
Die Anklägerin ist die freiwillige Koordinatorin der organisierten Ausflüge für die Mitglieder des Programms. Sie lernte Yao früher im Programm kennen, und Berichten zufolge bot er ihr nach ihrem Abschluss eine Stelle in seinem Unternehmen an. Liu bat Yao, dafür zu sorgen, dass sie an dem Abendessen teilnahm.
Nach den WeChat-Nachrichten der Studentin und ihrer Aussage bei der Polizei tranken die Teilnehmer des Abendessens große Mengen Alkohol. Tatsächlich wurden zwei Assistenten an diesem Abend auf zwei Weinfahrten geschickt. Insgesamt kauften sie 32 Flaschen Wein. Der Wein floss an diesem Abend in Strömen. Die Studentin hatte das Gefühl, dass sie zum Alkoholkonsum "gezwungen" wurde. In einem WeChat-Gespräch sagte sie zu einem Freund: "Warum hat sich nicht einer dieser wohlhabenden älteren CEOs wie ein reifer CEO verhalten und sie beschützt, anstatt sie kulturell zum Trinken zu zwingen?"
Die Freundin der Studentin musste das Abendessen verlassen, um eine halbe Stunde entfernt an einer anderen Veranstaltung teilzunehmen. Als die Feierlichkeiten des Abends beendet waren, fuhr sie mit Liu in seiner Limousine zu einem anderen Ort. Auf dem Rücksitz der Limousine versuchte er, sie zu küssen und ihr die Kleider vom Leib zu reißen. In ihrer Aussage sagte sie, sie habe ihm gesagt: "Du hast eine Frau und du hast Kinder. Tun Sie das nicht, ich will das nicht tun." Sie bat ihn mehrmals, sie zurück in ihre Wohnung zu bringen, bevor er es tatsächlich tat.
Als sie an ihrer Wohnung ankamen, stieg sie aus dem Auto aus, ebenso wie Liu, der den Fahrer und seinen Assistenten bat, im Auto zu warten. Als sie drinnen waren, versuchte er erneut, ihr die Kleider auszuziehen und sie auf das Bett zu werfen. Sie konnte sich kurz von ihm losreißen und sagte mehrmals nein. Liu drängte sie dann, mit ihm zu duschen. Als sie dies ablehnte, versuchte er, sie zu sich unter die Dusche zu ziehen. Als er die Dusche verließ und in ihr Schlafzimmer ging, schloss sie die Badezimmertür ab und zog sich trockene Kleidung an. Als sie das Bad verließ, lag Liu nackt auf ihrem Bett. Er weigerte sich, zu gehen. Schließlich warf er sie auf das Bett und hielt sie an den Schultern fest, so dass sie sich nicht bewegen konnte. Dann zwang er sich auf sie und vergewaltigte sie.
Liu wurde in der Nacht des 31. August festgenommen und etwa 17 Stunden lang festgehalten, bevor er ohne Anklageerhebung freigelassen wurde. Er kehrte fast sofort nach China zurück.
Sie behielt ihre Blätter als Beweismittel.
Im September schloss das Minneapolis Police Department seine Ermittlungen ab und übergab den Fall an die Staatsanwaltschaft von Hennepin County. Diese Staatsanwälte versuchen nun zu entscheiden, ob sie Strafanzeige gegen Liu erstatten sollen. In einem Zivilprozess muss der Kläger nur nachweisen, dass es wahrscheinlicher ist, dass der Beschuldigte die Straftat begangen hat. In einem Strafverfahren hingegen muss die Staatsanwaltschaft die Schuld zweifelsfrei beweisen.
Die Investoren von JD.com haben von dem internationalen Skandal Kenntnis genommen. Die Aktien des Unternehmens sind seit Ende August um 33 % gefallen.
