Im Kampf gegen die Luftverschmutzung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals seit 2005 ihre Empfehlung für Schadstoff-Grenzwerte deutlich verschärft. Eine hohe Konzentration an Luftschadstoffen sei eine der größten Gesundheitsgefahren für den Menschen und führe jedes Jahr zu sieben Millionen vorzeitigen Todesfällen, besonders in ärmeren Ländern, hieß es in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Laut Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ist Deutschland bei der Luftqualität auf einem guten Weg, Umweltpolitiker und Umweltschutzorganisationen sehen hingegen dringenden Handlungsbedarf.
Betroffen von der Änderung sind fast alle Referenzwerte für sogenannte konventionelle Schadstoffe, unter anderem Feinstaub, Stickstoffdioxid, Kohlenmonoxid und Ozon. Die Beweise für schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit hätten seit 2005 erheblich zugenommen, erklärte die WHO. Ein Überschreiten der neuen Grenzwerte sei daher mit "erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden". Die Einhaltung könne hingegen "Millionen von Menschenleben retten".
Südostasien ist laut dem Papier die am stärksten betroffene Region. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus erklärte, dass "Luftverschmutzung in allen Ländern eine Bedrohung für die Gesundheit" sei, besonders betroffen seien aber "Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen".
Bei Kindern habe Luftverschmutzung vermindertes Wachstum und eine verminderte Funktion der Lunge sowie Atemwegsinfektionen zur Folge. Bei Erwachsenen seien Herzkrankheiten und Schlaganfälle die häufigste Ursache für vorzeitige Todesfälle, die auf schlechte Luftqualität zurückgeführt werden könnten.
Die WHO-Grenzwerte sind nicht verbindlich, sollen von Regierungen aber als Referenz für rechtsverbindliche Standards genutzt werden. Angesichts der internationalen Klimakonferenz COP26, die in wenigen Wochen in Glasgow stattfinden soll, betonte die Organisation, dass die Verringerung von Luftverschmutzung auch dem Klimaschutz diene.
Umweltministerin Schulze erklärte, Deutschland sei beim Thema Luftqualität bereits auf einem guten Weg, die Luftqualität habe sich hierzulande in den vergangenen Jahren verbessert. "Mit dem Kohleausstieg vermeiden wir in Deutschland neben CO2 auch Millionen Tonnen von anderen Schadstoffen", sagte die Ministerin. Es bleibe jedoch viel zu tun. Die aktuellen Herausforderungen lägen "vor allem in der Landwirtschaft", besonders bei der Tierhaltung und aufgrund von Überdüngung, erklärte Schulze.
Die umweltpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Bettina Hoffmann, sieht hingegen "akuten Handlungsbedarf" in Deutschland. Sie forderte eine konsequente Umsetzung der neuen Leitlinien. "Nach Berechnung der Europäischen Umweltagentur sterben hierzulande pro Jahr mehr als 70.000 Menschen vorzeitig durch Krankheiten, die durch Luftverschmutzung verursacht wurden", erklärte Hoffmann. Mögliche Maßnahmen seien der Bau von sicheren und komfortablen Radwegen statt Autobahnen, ein früherer Kohleausstieg sowie mehr Autos mit E-Antrieb.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) begrüßte die Verschärfung der empfohlenen Grenzwerte. BUND-Geschäftsführerin Antje von Broock bezeichnete die Aktualisierung als "überfällig". "Wir brauchen die Mobilitätswende, um die Klimaziele einzuhalten und die Luftqualität in Deutschland zu verbessern", erklärte sie. Das bedeute: "Weniger Autos und mehr Platz fürs Fahrrad, für Fußgänger und für den öffentlichen Nahverkehr."
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) forderte Bund, Länder und Kommunen zu "einschneidenden Sofortmaßnahmen in Verkehr, Energiewirtschaft und Massentierhaltung" auf. Der Gesetzgeber müsse die neuen WHO-Werte "umgehend in nationales Recht umzusetzen". Der Grenzwert für Feinstaub müsse demnach von zehn auf fünf Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel halbiert werden. Bei Stickstoffdioxid (NO2) müsse er sogar auf ein Viertel reduziert werden, von derzeit 40 Mikrogramm auf zehn.
DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch nannte die neuen WHO-Werte "eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung und allen voran Verkehrsminister Scheuer, der noch vor zwei Jahren sogar die bislang geltenden, laxen NO2-Grenzwerte abschaffen wollte".
Der Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Stephan bezeichnete den WHO-Bericht als "Alarmsignal". Der Ausstieg aus der Kohleenergie und der Wechsel zu sauberer Mobilität müssten viel schneller passieren. "Wer Kohle, Gas und Öl verbrennt, schadet nicht nur dem Klima, sondern gefährdet auch die Gesundheit von Millionen Menschen", betonte Stephan.
by Von Robin MILLARD