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Warnungen vor schwieriger Corona-Lage im Herbst und Ende des Präsenzunterrichts

Kassenärzte-Chef Gassen will Ende der Beschränkungen in sechs Wochen

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fürchtet eine Verschlechterung der Corona-Lage in den kommenden Wochen. Deutschland brauche eine sehr viel höhere Impfquote - "andernfalls droht uns ein schwieriger Herbst", sagte er der "Passauer Neuen Presse". Scharf kritisierte Lauterbach den Vorstoß des Kassenärzte-Chefs Andreas Gassen, Ende Oktober alle Corona-Maßnahmen aufzuheben. Die Bildungsgewerkschaft GEW sieht derweil den Präsenzunterricht wegen mangelnden Infektionsschutzes in Gefahr.

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland war zuletzt leicht gesunken. Am Samstag meldete das Robert-Koch-Institut 8901 neue Fälle binnen 24 Stunden und eine Sieben-Tage-Inzidenz von 72,0. Vor einer Woche hatte der Wert noch bei 82,8 gelegen.

"Was wir momentan sehen, ist nach meinem Dafürhalten eine Verschnaufpause, nicht viel mehr", sagte Lauterbach dazu der "Passauer Neuen Presse" vom Samstag. "Ich gehe davon aus, dass die Fallzahlen in dem Moment wieder steigen werden, in dem sich das Leben der Menschen verstärkt in Innenräumen abspielt."

Ähnlich äußerte sich die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Die leicht sinkenden Zahlen bedeuteten "überhaupt nicht, dass wir nicht noch im Herbst eine große Welle bekommen können", sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, blickt ebenfalls besorgt auf den Herbst. "Schon jetzt sind teilweise ganze Klassen in Quarantäne", sagte sie dem Magazin "Business Insider". Die Politik müsse alles dafür tun, "dass wir keinen Winter wie im vergangenen Jahr bekommen". Derzeit würden die Maßnahmen für Schulen "zu zögerlich gemacht".

Es brauche einen Mix aus Maßnahmen aus flächendeckenden PCR-Tests, Luftfiltern an Schulen und mehr Personal, sagte Finnern. Anderenfalls könne nicht am Präsenzunterricht festgehalten werden.

Dagegen forderte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Gassen, ein baldiges Ende der Corona-Eindämmungsmaßnahmen. Nötig sei "eine klare Ansage der Politik: In sechs Wochen ist auch bei uns 'Freedom Day'", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung" mit Verweis auf das entsprechende Vorgehen in Großbritannien im Juli. Am 30. Oktober sollten "alle Beschränkungen" aufgehoben werden.

"Das gibt jedem, der will, genug Zeit, sich noch impfen zu lassen", argumentierte Gassen. Er würde darauf wetten, dass dann bis Ende Oktober die Impfquote bei mindestens 70 Prozent liege. Aktuell sind knapp 63 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft.

Unterstützung für Gassen kam von AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel. Die Kassenärzte forderten "zu Recht das Ende von Gruselrhetorik und Panikpolitik und die Aufhebung der ungerechtfertigten Freiheitseinschränkungen", erklärte sie in Berlin.

Scharfen Widerspruch äußerte der Mediziner Lauterbach. "Ich finde den Ansatz von Herrn Gassen unvertretbar, einfach mal auszutesten, was unser Gesundheitssystem aushält", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Bei Aufhebung aller Eindämmungsmaßnahmen Ende Oktober werde es "ab Spätherbst sehr hohe Fallzahlen und sehr viele Intensivpatienten" geben.

Lauterbach nannte es zudem unrealistisch, Menschen mit Ankündigung eines "Freedom Days" zum Impfen motivieren zu wollen. "Warum sollte sich noch jemand impfen, wenn die Beschränkungen so oder so wegfallen?"

Er schlug stattdessen vor, eine Impfquote von 85 Prozent der erwachsenen Bevölkerung als Ziel auszugeben. Zugleich solle angekündigt werden, "dass beim Erreichen der Marke tatsächlich wesentliche Lockerungen kommen".

by UWE KRAFT