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Waffenstillstand zu Berg-Karabach löst Wut und Empörung in Armenien aus

Aserbaidschan jubelt über "Kapitulation" - Russische Soldaten rücken in Region ein

Die Einigung auf ein Waffenstillstandsabkommen zur umkämpften Kaukasus-Region Berg-Karabach ist für die armenische Seite mit großen Gebietsverlusten verbunden. Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan sprach in der Nacht zum Dienstag von einer "unsäglich schmerzhaften" Entscheidung, wütende Armenier stürmten das Parlament und den Regierungssitz. Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew bejubelte das Abkommen hingegen als "Kapitulation" des Gegners. Russische Soldaten rücken nun in der Region ein, um den Waffenstillstand zu überwachen.

Die Armenier müssen schon in den nächsten Wochen mehrere Bezirke in Berg-Karabach an Aserbaidschan abtreten. Das unter russischer Vermittlung getroffene Abkommen bezeichnete Paschinjan im Onlinenetzwerk Facebook als einen "unsäglich schmerzhaften Schritt für mich persönlich und für unser Volk". Er habe aber nach einer "eingehenden Analyse der militärischen Lage" eingewilligt.

Vor der Unterzeichnung des Abkommens hatten pro-armenische Kämpfer in Berg-Karabach zunehmend Rückschläge erlitten. Zuletzt war es Aserbaidschan gelungen, unter anderem die strategisch wichtige Stadt Schuscha zurückzuerobern. Sie liegt in den Bergen über der Regionalhauptstadt Stepanakert und entlang einer wichtigen Straße, die Berg-Karabach mit Armenien verbindet.

Nach Bekanntgabe des Abkommens gingen in Eriwan tausende Menschen zu Protesten auf die Straße. Sie beschimpften Paschinjan als "Verräter" und forderten seinen Rücktritt. Hunderte Menschen stürmten den Regierungssitz und das Parlamentsgebäude. Erst am Dienstag erlangte die Polizei die Kontrolle über die Staatsgebäude zurück - Aktivisten kündigten im Laufe des Tages neue Proteste an.

Der aserbaidschanische Staatschef Alijew kostete hingegen seinen Triumph aus. Paschinjan habe keine andere Wahl gehabt, als die "historische Vereinbarung" zu unterzeichnen, sagte Alijew bei einer Fernsehansprache. Der armenische Regierungschef sei dazu von einer "eisernen Hand" gezwungen worden. Es handle sich "im Wesentlichen um eine Kapitulation". Alijew fügte hinzu: "Ich hatte gesagt, wir werden (die Armenier) wie Hunde von unserem Land vertreiben, und das haben wir getan."

Aserbaidschan habe "vor Ort und am (Verhandlungs-) Tisch erhebliche Gewinne erzielt", gratulierte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu im Online-Dienst Twitter den Aserbaidschanern zu ihrem "Erfolg". Ankara unterstützt Aserbaidschan militärisch, auch mit Söldnern aus Syrien. Nach Angaben von Alijew soll auch die türkische Seite an den friedenssichernden Maßnahmen beteiligt sein, im Abkommen war davon nicht die Rede.

Das Waffenstillstandsabkommen wurde auch vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet. Die Einigung sehe eine "vollständige" Feuerpause vor, erklärte der Staatschef am Montagabend. Insgesamt will der Kreml nun 1960 Soldaten, 90 gepanzerte Fahrzeuge und hunderte Einheiten mit Spezialausrüstung an den Frontlinien stationieren. Die russische Armee soll im Rahmen einer Friedensmission einen Korridor absichern, der den Bezirk Lachin in Berg-Karabach mit dem armenischen Staatsgebiet verbindet. Die Mission soll auf fünf Jahre angesetzt sein - mit Option auf Verlängerung.

Putins Angaben zufolge sieht das Abkommen vor, dass Armenien und Aserbaidschan die im Moment von ihnen besetzten Gebiete halten. Aserbaidschan hatte im Laufe der Kämpfe mit den pro-armenischen Truppen gut 15 bis 20 Prozent des Territoriums von Berg-Karabach zurückerobert.

Dem Abkommen zufolge wird Armenien die Kontrolle über den Bezirk Kalbajar bis zum 15. November an Aserbaidschan übergeben; folgen sollen die Bezirke Aghdam bis zum 20. November und Latchin bis zum 1.Dezember. Das Abkommen regelt auch die Rückkehr vertriebener Menschen in die Region, zudem sollen die Konfliktparteien Kriegsgefangene und andere inhaftierte Personen sowie Tote austauschen.

Berg-Karabach hatte während des Zerfalls der Sowjetunion einseitig seine Unabhängigkeit erklärt. Darauf folgte in den 90er Jahren ein Krieg mit 30.000 Toten. Die selbsternannte Republik wird bis heute international nicht anerkannt und gilt völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans. Sie wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Die Kämpfe waren Ende September wieder voll entbrannt. Seither wurden nach Angaben beider Seiten mehr als tausend Menschen getötet.

by Von Hervé BAR