Während die Waffenruhe in Berg-Karabach zunächst weitgehend eingehalten wurde, haben sich die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans im UN-Sicherheitsrat einen heftigen Schlagabtausch geliefert. Es gebe nicht mehr "zwei Seiten in dem Konflikt, sondern Eindringlinge und Opfer", sagte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan am Donnerstagabend (Ortszeit) in New York. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisierte die aserbaidschanische Großoffensive und forderte den Schutz der Zivilbevölkerung.
"Die Intensität und Grausamkeit" der aserbaidschanischen Offensive in der hauptsächlich von Armeniern bewohnten Kaukasusregion zeige, dass deren Ziel die "Vollendung der ethnischen Säuberung" sei, sagte Mirsojan bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. "Buchstäblich das ganze Territorium" von Berg-Karabach sei "unter intensiven, wahllosen Beschuss mit Raketen und schwerer Artillerie einschließlich verbotener Streumunition" geraten.
Der aserbaidschanische Außenminister Dscheihun Bajramow beschuldigte Armenien daraufhin der Falschinformation und sagte: "Armeniens Versuch, den UN-Sicherheitsrat für seine Kampagne auszunutzen, ist erbärmlich." Den UN-Sicherheitsrat beschuldigte er, parteiisch zu sein. Armenien habe in Berg-Karabach lange Zeit "Separatismus befeuert".
Außenministerin Baerbock warf bei der Dringlichkeitssitzung in New York Aserbaidschan vor, mit militärischer Gewalt "Fakten" geschaffen zu haben. "Wir verurteilen Bakus militärischen Angriff scharf und rufen es auf, seine militärischen Aktivitäten dauerhaft und vollständig einzustellen", erklärte die Ministerin.
Aserbaidschan trage die Verantwortung, die Zivilbevölkerung - insbesondere Kinder - in Berg-Karabach zu schützen, sagte Baerbock. "Eine Vertreibung und erzwungene Abwanderung der ethnischen Armenier aus Karabach sind inakzeptabel."
Aserbaidschan hatte am Dienstag eine großangelegte Militäroffensive in Berg-Karabach gestartet. Bereits am Mittwoch einigten sich die Führung in Baku und die pro-armenischen Kämpfer in Berg-Karabach auf eine Waffenruhe. Diese wurde am Freitag zunächst weiter weitgehend eingehalten. Am Donnerstag waren von beiden Seiten noch vereinzelte Verstöße gemeldet worden.
Zugleich fanden am Donnerstag Gespräche zwischen Aserbaidschan und Vertretern Berg-Karabachs statt, die nach Angaben der Präsidentschaft in Baku "in einer konstruktiven und friedlichen Atmosphäre" abliefen. Dabei seien Pläne für die Wiedereingliederung Berg-Karabachs in das aserbaidschanische Territorium präsentiert sowie die Lieferung von dringend benötigtem Treibstoff, humanitären Hilfsgütern und medizinischer Versorgung in die Region versprochen worden, hieß es aus Baku.
Mit den Gesprächen will Aserbaidschan seine Bestrebungen vorantreiben, die Kaukasus-Region vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Aserbaidschan und Armenien streiten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Enklave und hatten sich deshalb bereits zwei Kriege geliefert, zuletzt im Jahr 2020.
Damals hatte das traditionell mit Armenien verbündete Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang. Russland entsandte damals 2000 Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstands - welche die jüngste Gewalteskalation aber nicht verhinderten.
Die Aufgabe großer Gebiete durch das Abkommen hatte damals in Armenien Massenproteste ausgelöst - auch jetzt gibt es wieder Demonstrationen in der Hauptstadt Eriwan, um gegen die Aufgabe von Berg-Karabach zu demonstrieren.
Am Freitag blockierten den dritten Tag in Folge kleine Gruppen von Demonstranten Straßen der Hauptstadt. Sie kündigten an, eine im Laufe des Tages geplante Kabinettssitzung unter Regierungschef Nikol Paschinjan stören zu wollen.
Paschinjan hatte am Vortag erklärt, sein Land stelle sich auf die Ankunft zehntausender Flüchtlinge ein. "Wir haben Vorbereitungen getroffen, um mehr als 40.000 Familien aufzunehmen", sagte er. Er sehe "keine direkte Bedrohung" für Zivilisten in Berg-Karabach, fügte Paschinjan hinzu. Unter den rund 120.000 Bewohnern von Berg-Karabach besteht die Furcht, dass sie zum Verlassen der Region gezwungen werden könnten.
jes/ju