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“Unser Sandmännchen”: Der große Sieger aus der DDR

60 Jahre im TV

Irgendwie ist er aus der Zeit gefallen. Ein kleiner Mann mit schwarzen Knopfaugen, weißem Spitzbart, roter Zipfelmütze – so sehen heutzutage selbst Comic-Figuren für Kinder schon lange nicht mehr aus. Doch das Sandmännchen, dieser zeitlose Wicht, ist seit Jahrzehnten der Alte geblieben. So und nicht anders muss er aussehen. So und nicht anders wird er von den Kindern geliebt.

Wenn man so will, ist er einer der langlebigsten TV-Stars der Welt. Diesen Freitag (22.11.) feiert er sein 60-jähriges Dienstjubiläum. Das hat in Deutschland noch keiner vor ihm geschafft, und erst recht keiner aus der DDR, denn “Unser Sandmännchen” ist eine der ganz wenigen TV-Sendungen, die das Ende des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates überlebt haben.

“Uns ist es wichtig, dass das Sandmännchen ungeachtet seiner ostdeutschen Herkunft schon lange eine gesamtdeutsche Figur ist”, sagt Anja Hagemeier, die für das Sandmännchen verantwortliche Redakteurin beim zuständigen ARD-Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).

Man kann darüber streiten, ob das Sandmännchen eindeutig ostdeutscher Herkunft ist. Ja, es kam 1959 im Ost-Fernsehen zur Welt, doch seine Mutter bzw. die Erfinderin stammt aus dem Westen. Die Kinderbuchautorin Ilse Obrig wurde 1908 im rheinischen Elberfeld geboren, das heute ein Ortsteil von Wuppertal ist. Sie hat 1934 in Leipzig promoviert, arbeitete beim Reichssender Berlin und baute von 1945 bis 1949 den Kinderfunk des DDR-Senders Berliner Rundfunk auf. Dort hatte sie bereits die Idee zu einem Sandmännchen, das erstmals in der Radio-Sendung “Abendlied” auftauchte.

1950 wechselte Ilse Obrig jedoch in den Westteil Berlins, zum Sender RIAS und Nordwestdeutschen Rundfunk, ihr Sandmännchen nahm sie mit. Nach der Gründung des Senders Freies Berlin (SFB) sollte es dort eine neue Heimat finden.

Das Sandmännchen spielte im Kalten Krieg der 50er-Jahre längst eine politische Rolle, besser gesagt: Es wurde zum Hauptdarsteller einer Realsatire zwischen Ost und West, denn Ilse Obrig hat das Sandmännchen für den SFB als TV-Figur weiterentwickelt. Es sollte am 1. Dezember 1959 erstmals im Deutschen Fernsehen der ARD auftreten.

Als die Macher des DDR-Fernsehens in Berlin-Adlershof von den Planungen ihrer West-Kollegen erfuhren, arbeiteten sie fieberhaft an einem Ost-Sandmännchen, das schließlich der Bühnen- und Kostümbildner Gerhard Behrendt (1929-2006) innerhalb von zwei Wochen fernsehreif gestaltete.

Und tatsächlich gelang der DDR-Coup: Am 22. November 1959 ging “Unser Sandmännchen” auf Sendung, neun Tage vor der West-Konkurrenz. Fast 30 Jahre lang flimmerte im Osten Deutschlands der DDR-Sandmann über den Bildschirm und im Westen das BRD-Sandmännchen, das einen Backenbart hatte und eher einem knorrigen Kutterfischer ähnelte als einer Gute-Nacht-Figur für Kinder. Das Ost-Sandmännchen hingegen erinnerte mit seinem weißen Spitzbart ein wenig an den DDR-Politiker und Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht (1893-1973).

Ansonsten war das Konzept beider Sendungen gleich: eine fünfminütige Sendung, in der das Sandmännchen Kindern, die ins Bett müssen, kurze Bildergeschichten präsentiert und so den Tag friedlich ausklingen lässt.

Wobei sich das Ost-Sandmännchen bisweilen nach den sozialistischen Landmarken der DDR ausrichtete, zu Gast im Palast der Republik war, NVA-Soldaten besuchte oder Junge Pioniere in ihrem Sommerlager. Gern reiste es auch ins sozialistische Ausland nach Kuba oder Vietnam, tauchte mit dem Tragflächenboot in Budapest auf, fuhr Schlitten in Krakau oder war als Kosmonaut in einer sowjetischen Rakete zu sehen.

Einmal kam das DDR-Sandmännchen mit einer Art Heißluftballon eingeflogen, kurz nachdem einer ostdeutschen Familie die Republikflucht mit einem selbstgebastelten Ballon über den Eisernen Vorhang in den Westen gelungen war. Die DDR-Oberen fanden das überhaupt nicht lustig, die verantwortlichen Redakteure wurden entsprechend gerüffelt.

Doch wie auch immer: Das Ost-Sandmännchen kam offenbar bei den DDR-Kindern besser an, als sein SFB-Konkurrent beim westlichen Publikum. Bereits 1966 versuchte die ARD-Anstalt WDR, den Ost-Sandmann zu kaufen, was das DDR-Fernsehen trotz der verlockenden Devisen ablehnte. Daraufhin entwickelten die Kölner einen “Sandmännchen International”, eine Art tanzender Samson. Ihm folgten Anfang der 80er-Jahre neue Sandmännchen, bis schließlich die Sendung am 31. März 1989 ganz eingestellt wurde.

Das Ost-Sandmännchen hat überlebt, mehr noch: Es wurde zur heiligen Kuh. Als nach der Wende Gerüchte laut wurden, die Sendung solle abgesetzt werden, kam es zu massiven Zuschauerprotesten, der damalige Rundfunkbeauftragte der neuen Länder, Rudolf Mühlfenzl (1919-2000), musste klein beigeben.

Heute läuft “Unser Sandmännchen” in der Regel täglich von 17:55 bis 18:00 Uhr im RBB, zuweilen auch schon ab 17:50 Uhr. Im MDR und bei Kika wird es zu anderen Uhrzeiten ausgestrahlt. Es hat sogar eine Vereinigung von Ost und West stattgefunden. Zu den Begleitfiguren wie Pittiplatsch und Schnatterinchen oder Herr Fuchs und Frau Elster sind die westdeutschen Sandmännchen-Freunde Piggeldy und Frederick dazugekommen.

Täglich sitzen verlässlich über eine Million Kinder vor dem Fernseher, wenn es wie seit Jahrzehnten heißt: “Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht soweit. Wir sehen erst den Abendgruß, ehe jedes Kind ins Bettchen muss, du hast gewiss noch Zeit!”

(ln/spot)

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