Die Spitzen der großen Koalition sind am Dienstagnachmittag im Bundeskanzleramt zusammengekommen, um eine Lösung im verfahrenen Streit um die Reform des Wahlrechts zu finden. Vertreter aller drei Regierungsparteien bewerteten die Chancen auf eine Einigung vor Beginn der Gespräche im Koalitionsausschuss allerdings skeptisch, Union und SPD bekräftigten ihre wechselseitigen Vorwürfe.
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans beschuldigte den Koalitionspartner im SWR, sich mit seinem Reformvorschlag Vorteile sichern zu wollen. CSU-Chef Markus Söder wiederum warf den Sozialdemokraten im "Wir" vor, aus taktischen Gründen auf Zeit zu spielen.
Der Streit ums Wahlrecht dürfte nach Erwartung der Teilnehmer der große Knackpunkt im Koalitionsausschuss werden. Bei den anderen Themen - etwa der Verlängerung des Corona-Kurzarbeitergelds und der Corona-Überbrückungshilfen für Unternehmen - wurde auf Unions- wie auf SPD-Seite mit Kompromisslösungen gerechnet.
Wegen der Differenzen bei der Wahlrechtsreform sei mit "langen und schwierigen Verhandlungen" im Kanzleramt zu rechnen, hieß es aus CDU-Kreisen. Sollte die Runde der Partei- und Fraktionschefs am Dienstag keine Lösung finden, müsse das Thema möglicherweise zur weiteren Klärung zurück an die Fraktionen gehen. Von SPD-Seite hieß es, die Chancen auf eine Einigung seien eher "skeptisch" zu bewerten.
Die Reform des Wahlrechts soll eine weitere Vergrößerung des Bundestags verhindern. Die Konzepte von Union und SPD lagen allerdings zu Beginn des Koalitionsausschusses weit auseinander.
Die Unionsfraktion hatte sich nach langem Streit zwischen CDU und CSU erst kurz vor der Sommerpause auf ein gemeinsames Konzept verständigt. Es sieht unter anderem vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 zu verringern. Außerdem sollen bis zu sieben Überhangmandate nicht mit zusätzlichen Parlamentssitzen für die anderen Fraktionen ausgeglichen werden. Davon würde die Union voraussichtlich selbst profitieren.
Walter-Borjans will dies nicht akzeptieren. Es dürfe nicht sein, "dass eine Partei Vorschläge macht, die so sind, dass CDU und CSU am Ende mehr Sitze im Parlament haben, als sie Stimmanteile bei der Wahl errungen haben", sagte er im SWR. Im Koalitionsausschuss müsse daher eine Einigung gefunden werden, "die diesen Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen, vereitelt".
Walter-Borjans verteidigte den Vorschlag seiner Partei, zunächst nur für die kommende Bundestagswahl im Herbst 2021 die Zahl der Parlamentssitze auf 690 zu deckeln. Eine solche Überbrückungslösung sei möglich. "Aber dann müssen sich alle bewegen."
Die Union lehnt den SPD-Vorschlag zur Deckelung der Abgeordnetenzahl aber ab, weil dies dazu führen könnte, dass einige direkt gewählte Kandidaten ihr Mandat im Bundestag nicht antreten können - dies wäre "nicht verfassungskonform", hieß es aus der CDU.
CSU-Chef Söder erhob seinerseits Vorwürfe gegen die SPD. "Die Union reicht den Sozialdemokraten die Hand für eine Lösung, die schon für den nächsten Bundestag gelten soll", sagte er dem "Wir". "Ich habe aber das Gefühl, dass einige SPD-Strategen denken, ein größeres Parlament könnte für ein rot-rot-grünes Bündnis erfolgsversprechender sein."
Sollte keine Einigung gelingen, hält Söder dies nicht für allzu dramatisch: "100 mehr gewählte Abgeordnete sind keine Katastrophe für die Demokratie, wenn sie dabei helfen, den Bürgern die Politik näher zu bringen", sagte er dem "Wir".
by Odd ANDERSEN