Nach der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine sind Orte in der Region Cherson überflutet und Bewohner evakuiert worden. Insgesamt seien 14 Orte und mehr als 22.000 Menschen von Überflutungen bedroht, erklärte der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef der Region Cherson, Andrej Aleksejenko, am Dienstag. Die gesamte Stadt Nowa Kachowka am Staudamm wurde nach russischen Angaben von den Wassermassen überflutet. Russland und die Ukraine machten sich gegenseitig für die Zerstörungen verantwortlich. International wuchs die Sorge, dass auch die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja durch das Wasser des Flusses Dnipro in Gefahr sein könnte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer "neuen Dimension" des Kriegs.
Mehrere Dörfer seien "vollständig oder teilweise" überflutet, teilte der Leiter der ukrainischen Militärverwaltung von Cherson, Oleksandr Prokudin, in einem Onlinedienst mit. "Etwa 16.000 Menschen befinden sich in der kritischen Zone am rechten Ufer", erklärte er. Der Wasserpegel sei nach Angaben der Rettungsdienste auf bis zu vier Meter angestiegen, erklärte auch der russische Verwaltungschef Aleksejenko im Onlinedienst Telegram. "Die Situation ist vollständig unter Kontrolle", versicherte er aber.
Der von Moskau eingesetzte Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, betonte: "Der Damm ist nicht zerstört, und das ist ein großes Glück". Er kündigte die Evakuierung von "etwa 300 Häusern" an, die direkt am Ufer des Dnipro liegen. Wenige Stunden später meldeten er dann: "Die Stadt ist überflutet."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berief nach der Explosion an dem Staudamm am frühen Dienstagmorgen den Nationalen Sicherheitsrat ein. "Wasserkraftwerk Kachowka. Ein weiteres Kriegsverbrechen, begangen von russischen Terroristen", schrieb Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak im Onlinedienst Telegram. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak warf Russland vor, den Staudamm "gesprengt" zu haben, um das Gebiet zu überfluten und so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern.
Von Moskau eingesetzte Behörden meldeten hingegen, der Staudamm sei "durch mehrere Angriffe" der Ukraine teilweise zerstört worden. Der Kreml erklärte, es handele sich um "vorsätzliche Sabotage" der Ukraine, um die Krim von der Wasserversorgung abzuschneiden. Der Staudamm versorgt die von Russland annektierte Halbinsel mit Wasser.
Der Staudamm liegt in dem von Russland kontrollierten Teil der Region Cherson. Den Staudamm hatten die russischen Truppen bereits in den ersten Kriegstagen im vergangenen Jahr besetzt. Später eroberte die Ukraine Teile der Region und die Stadt Cherson zurück und kündigte wiederholt an, auch die Krim zurückerobern zu wollen.
Da das Wasser aus dem Fluss Dnipro, an dem der Staudamm liegt, auch für die Kühlung des 150 Kilometer entfernten größten Atomkraftwerks Europas, Saporischschja, genutzt wird, wuchs die Angst vor einem Atomunfall. Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sah zunächst "kein unmittelbares nukleares Risiko", teilte die Organisation mit. IAEA-Experten seien vor Ort und "beobachten die Situation".
Die ukrainische Führung sprach hingegen von einer "rapide wachsenden" Gefahr. "Die Welt befindet sich wieder einmal am Rande einer nuklearen Katastrophe", erklärte Präsidentenberater Podoljak. Russland erklärte seinerseits, die Zerstörung des Staudamms sei keine Bedrohung für die Sicherheit des von Russland kontrollierten Atomkraftwerks. Der von Russland eingesetzte Leiter des Akw, Juri Tschernitschuk, versicherte im Onlinedienst Telegram, "der Wasserstand im Kühlbecken hat sich nicht verändert".
International wurde die Zerstörung des Kachowka-Damms scharf kritisiert. Kanzler Scholz sprach von einer "neuen Dimension" im Krieg. Die Beschädigung sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte Scholz in Berlin. Er bekräftigte, dass die Ukraine weiterhin unterstützt werden müsse.
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte den Angriff scharf. Die Zerstörung gefährde tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb er im Kurzbotschaftendienst Twitter. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb: "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen." Ähnlich äußerte sich der britische Außenminister James Cleverly,
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