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Türkei vollzieht trotz internationaler Kritik Austritt aus Istanbul-Konvention

Lambrecht: Abkehr von Frauenschutzabkommen ist "fatales Signal"

Der offizielle Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention hat scharfe Kritik und besorgte Reaktionen hervorgerufen. Mit der Aufkündigung der internationalen Konvention gegen Gewalt an Frauen sende die türkische Regierung "ein fatales Signal aus", erklärte Bundesjustiz- und Bundesfrauenministerin Christine Lambrecht (SPD) am Donnerstag. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnte, der Schritt setze Millionen von Frauen und Mädchen in dem Land einem erhöhten Risiko von Gewalt aus.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Austritt aus der Konvention im März per Dekret verfügt. Die Entscheidung wurde international scharf kritisiert und löste eine Welle von Protesten in der Türkei aus. Zum 1. Juli wurde der Schritt nun wirksam. Am Donnerstag waren vielerorts in der Türkei Proteste geplant. Eine große Kundgebung in Istanbul sollte am Abend starten.

"Der heutige Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein schwerer Rückschlag für den Schutz von Frauen vor Gewalt", erklärte Lambrecht. Sie äußerte die Sorge, dass Frauen in der Türkei "elementare Schutzrechte genommen werden und die Gefahr von Gewalttaten zunimmt".

Auch Amnesty International schlug Alarm. "Die Türkei hat die Uhr für Frauenrechte um zehn Jahre zurückgestellt und einen erschreckenden Präzedenzfall geschaffen", erklärte die Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation, Agnès Callamard.

Der Austritt aus der internationalen Konvention gegen Gewalt an Frauen sende eine "gefährliche Botschaft an die Täter, die missbrauchen, verstümmeln und töten: Sie können dies ungestraft tun", warnte Callamard. Nach ihren Worten wird diese türkische Entscheidung "in die Geschichte eingehen – erstmals tritt ein Mitglied des Europarats aus einer internationalen Menschenrechtskonvention aus".

Erdogan war mit dem Dekret zum Austritt konservativen und islamistischen Kreisen entgegengekommen. Diese hatten den Schritt mit der Begründung gefordert, die Konvention schade der Einheit der Familie und fördere Scheidungen sowie Homosexualität. Das höchste Verwaltungsgericht der Türkei wies am Dienstag einen Antrag auf Annullierung des Austritts zurück. Erdogan habe die "Autorität", diese Entscheidung zu treffen, erklärten die Richter.

Erdogan betonte am Donnerstag, die Türkei werde sich unabhängig vom Ausstieg aus der Istanbul-Konvention weiter für ein Ende der Gewalt gegen Frauen einsetzen. Es gehe darum, die "Ehre unserer Mütter und Töchter" zu schützen, sagte er bei der Vorstellung eines nationalen Aktionsplans zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Die Äußerungen dürften viele türkische Frauen allerdings in ihrer Kritik bestärken, dass der Präsident sie auf ihre Rolle als Mütter reduziert.

Beobachter sehen im Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention sowie etwa auch im behördlichen Vorgehen gegen Pride-Märsche ein klares Zeichen für eine schleichende Islamisierung der Türkei unter Erdogan. Menschenrechtsgruppen prangern zugleich regelmäßig die hohe Zahl von Morden an Frauen in dem Land an. Nach Angaben der Organisation We Will Stop Femicide wurden im vergangenen Jahr 300 Frauen in der Türkei ermordet, in diesem Jahr sind es bislang 189.

Die Grünen-Politikerinnen Claudia Roth und Ulle Schauws forderten angesichts des "autokratischen Umbaus der Türkei" einen Kurswechsel der Bundesregierung und der EU gegenüber der Regierung in Ankara. Brüssel und Berlin müssten die Verletzungen von Bürger- und Menschenrechten "endlich zielführend sanktionieren". Durch die "Hinnahme von Ankaras Innen- wie Außenpolitik (führen sie) die eigenen menschenrechtlichen Prämissen ad absurdum".

Die Istanbul-Konvention des Europarats ist das weltweit erste verbindliche Abkommen dieser Art. Sie verlangt von den Unterzeichnerstaaten, dass sie Maßnahmen gegen häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe sowie gegen weibliche Genitalverstümmelung ergreifen. Die 46 Unterzeichnerstaaten, darunter auch Deutschland, verpflichten sich unter anderem, Frauen und Mädchen durch strafrechtliche Verfolgung der Gewalttäter besser zu schützen. Als Gewalt gilt dabei nicht nur physische Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierung, Einschüchterung oder wirtschaftliche Ausbeutung.

by Von Raziye Akkoc und Fulya Ozerkan