Die Waffenruhe in der zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittenen Region Berg-Karabach hat sich bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten als brüchig erwiesen. Beide Konfliktparteien meldeten in der Nacht zum Sonntag feindliche Angriffe. Beim Angriff auf ein Wohngebiet im aserbaidschanischen Gandscha wurden nach Regierungsangaben mindestens sieben Menschen getötet. Russlands Außenminister Sergej Lawrow mahnte in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu die Einhaltung der Feuerpause an.
Nach fast zwei Wochen schwerer Gefechte in und um Berg-Karabach war am Samstag eine Waffenruhe in Kraft getreten, die seitdem jedoch immer wieder gebrochen wird. Aserbaidschans Außenministerium warf armenischen Streitkräften vor, in der Nacht zum Sonntag ein Wohngebiet beschossen und dabei sieben Zivilisten getötet zu haben. 33 weitere Menschen wurden demnach verletzt, darunter auch Kinder.
Ein AFP-Journalist berichtete von eingestürzten Häusern in Gandscha und Rettungskräften, die einen fast nackten Leichnam aus den Trümmern bargen.
Der Anwohner Sagit Alijew berichtete, er sei am frühen Sonntagmorgen von einer lauten Explosion geweckt worden. Ein gesamter Block aus ein- und zweistöckigen Häusern sei kurz darauf dem Erdboden gleichgemacht worden. "Alles, wofür ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, wurde zerstört", sagte der 68-Jährige.
Ein Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew prangerte "einen Akt des Völkermords" an und drohte mit Vergeltung. Das Verteidigungsministerium der selbsternannten Republik Berg-Karabach bestritt die Bombardierung Gandschas.
Der Präsident der selbsternannten Republik Berg-Karabach, Araik Harutjunjan, beurteilte die Situation am Sonntag als insgesamt "ruhiger" als am Vortag. Es habe keine Bombardierungen gegeben, jedoch "einige Schusswechsel an der Frontlinie". Seine Truppen hielten das Waffenstillstandsabkommen ein, betonte Harutjunjan.
Ein AFP-Journalist meldete nächtliche Explosionen in der Hauptstadt von Berg-Karabach, Stepanakert. Ein Sprecher der De-facto-Regierung der Region bezeichnete die Bombardierungen als "Verstoß gegen die Vereinbarungen von Moskau". Er rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Unabhängigkeit Berg-Karabachs anzuerkennen.
In der Nacht zum Samstag hatten sich Armenien und Aserbaidschan unter Vermittlung von Russlands Außenminister Lawrow neben der Waffenruhe auf den Beginn "ernsthafter Verhandlungen" über die Zukunft der seit Jahrzehnten umstrittenen Region geeinigt.
Die Kaukasusregion hatte während des Zerfalls der Sowjetunion einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt. Darauf folgte in den 90er Jahren ein Krieg mit 30.000 Toten. Die selbsternannte Republik Berg-Karabach wird bis heute von keinem Staat der Welt anerkannt und gilt völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans. Sie wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt.
Nach mehreren Jahren relativer Ruhe war der Konflikt um Berg-Karabach und angrenzende Gebiete Ende September wieder aufgeflammt. Seitdem gab es täglich heftige Gefechte, bei denen dutzende Zivilisten starben. Bislang wurden nach armenischen Angaben mehr als 450 Menschen getötet, darunter etwa 60 Zivilisten. Aserbaidschan äußert sich nicht zur Zahl der auf seiner Seite getöteten Soldaten.
Beobachter fürchten, dass sich der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei im Kaukasus ausweiten könnte. Die Türkei unterstützt in dem Konflikt das Nachbarland Aserbaidschan.
Am Sonntag machte das Verteidigungsministerium in Ankara Armenien für die Verstöße gegen die Waffenruhe verantwortlich und warf der Regierung in Eriwan "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor. Russlands Außenminister Lawrow forderte derweil in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Cavusoglu die "strikte Umsetzung" der Waffenruhe.
Nach Angaben Eriwans sowie der Regierungen Russlands und Frankreichs hat die Türkei zur Unterstützung Bakus dschihadistische Kämpfer von Syrien und Libyen nach Aserbaidschan verlegt. Das armenische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Sonntag erneut Aufnahmen, die die Anwesenheit syrischer Söldner in Aserbaidschan belegen sollen.
Papst Franziskus appellierte derweil an die Konfliktparteien, die "zerbrechliche" Waffenruhe einzuhalten. Er bete für die Opfer der Kämpfe und für alle, "deren Leben in Gefahr ist".
by Von Hervé BAR und Dmitry ZAKS