In Tunesiens Hauptstadt Tunis haben am Sonntag rund 2000 Menschen gegen die Ausweitung der Machtbefugnisse für Präsident Kaïs Saïed protestiert. "Verfassung, Freiheit und nationale Würde", riefen die überwiegend männlichen Demonstranten und forderten ein "Ende des Kaïs-Saïed-Regimes". Es gab ein Großaufgebot an Sicherheitskräften, die im Stadtzentrum mit gepanzerten Fahrzeugen und Mannschaftswagen der Polizei präsent waren und Metallbarrieren errichteten.
Saïed hatte Ende Juli mithilfe eines Notstandsartikels der Verfassung den Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt, die Arbeit des Parlaments ausgesetzt und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Die Entmachtung der Regierung und die Suspendierung des Parlaments stürzten Tunesien in eine Verfassungskrise. Die bis dahin regierende Ennahdha-Partei warf ihm einen "Putsch" vor. Am vergangenen Mittwoch weitete Saïed dann seine eigenen Machtbefugnisse aus, so dass er nun per Dekret regieren kann.
Viele Tunesier fürchten einen Rückfall in die Zeit vor dem Arabischen Frühling 2011, der zum Sturz des langjährigen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali geführt hatte. "Raus, raus", riefen einige Demonstranten am Sonntag - den Slogan der damaligen Proteste, die im Dezember 2010 begonnen und im Januar 2011 zum Sturz Ben Alis geführt hatten. Zahlreiche internationale und tunesische Menschenrechtsgruppen verurteilten Saïeds Vorgehen als "ersten Schritt hin zu Autoritarismus".
Tunesien galt lange als Musterland des Arabischen Frühlings. Allerdings hat das Land auch mehr als zehn Jahre nach dem demokratischen Wandel nicht zu politischer Stabilität gefunden. Seit dem Sturz von Langzeit-Machthaber Ben Ali gab es zahlreiche Regierungen, von denen sich einige nur Monate an der Macht halten konnten.
by FETHI BELAID