Aus Trauer wird Wut: Nach der Explosionskatastrophe in Beirut hat die Protestbewegung im Libanon für Samstag zu neuen Massenprotesten gegen die Regierung aufgerufen. Viele Libanesen, die der politischen Elite schon seit langem Korruption und Unfähigkeit vorwerfen, machen die Regierung nun auch für die verheerenden Explosionen mit mehr als 150 Toten verantwortlich. In den Trümmern suchen Rettungskräfte noch nach mehr als 60 Vermissten.
Am Dienstag hatten zwei gewaltige Explosionen den Hafen von Beirut erschüttert. Nach Regierungsangaben waren 2750 Tonnen der Chemikalie Ammoniumnitrat explodiert, die jahrelang ungesichert in einer Halle im Hafen lagerten.
Ein Vertreter des Gesundheitsministeriums sprach am Samstag von 154 Toten und mehr als 60 Vermissten. Von den mehr als 5000 Verletzten schwebten nach Regierungsangaben am Freitag noch mindestens 120 in Lebensgefahr. Die Frau des niederländischen Botschafters Jan Waltmans erlag ihren schweren Verletzungen, wie das Außenministerium in Den Haag am Samstag mitteilte. Rund 300.000 Menschen wurden obdachlos, halb Beirut ist zerstört oder beschädigt.
Viele Libanesen sehen die Katastrophe als Beleg für das Versagen der Regierung. Der Libanon steckt schon seit Jahren in einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise, die durch die Corona-Pandemie noch verschärft wurde. Seit Monaten gibt es Massenproteste gegen die Regierung. Zu der Großdemonstration in Beirut am Samstagnachmittag wurden tausende Menschenerwartet.
"Nachdem wir drei Tage lange saubergemacht, Trümmer weggeräumt und unsere Wunden geleckt haben, ist es an der Zeit, unsere Wut rauszulassen und sie zu bestrafen", sagte der 28-jährige Fares Halabi über die Regierung.
Zwei Minister bekamen die Wut der Menschen schon persönlich zu spüren. Auf Online-Videos war zu sehen, wie Bildungsminister Tarek Majsub am Freitag mit einem Besen in der Hand vor die Tür ging, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Freiwillige Helfer auf der Straße begrüßten ihn mit lautstarken Rücktrittsforderungen.
Justizministerin Marie-Claude Najm war bereits am Donnerstag beleidigt und mit Wasser bespritzt worden, wie gleichfalls auf Videos im Internet zu sehen war. "Korruptionsministerin, nicht Justizministerin", rief ein Mann.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der am Donnerstag als erster ausländischer Staatschef in den Libanon gereist war, wurde in den zerstörten Wohnvierteln dagegen jubelnd empfangen. Er forderte tiefgreifende Reformen im Libanon und kündigte eine internationale Geberkonferenz an.
Bei der von Frankreich und der UNO organisierten Konferenz sollen am Sonntag Spenden für die Nothilfe im Libanon gesammelt werden. Neben Macron will auch US-Präsident Donald Trump daran teilnehmen. "Alle wollen helfen", schrieb Trump im Onlinedienst Twitter. Für die EU werden Ratspräsident Charles Michel und der Kommissar für humanitäre Hilfe, Janez Lenarcic, an der Konferenz teilnehmen.
Michel wollte noch am Samstag nach Beirut reisen, ebenso wie der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Ahmed Aboul Gheit, wurde bereits von Präsident Michel Aoun empfangen.
Die Solidaritätsbekundungen lassen die libanesische Regierung bereits auf ein Ende ihrer internationalen Isolation hoffen. Aoun sagte am Freitagabend, die Katastrophe habe bereits zu einer "Aufhebung der Isolation" geführt. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah sagte, die Explosionen hätten "eine Chance" für eine Wiederaufnahme der internationalen Zusammenarbeit mit dem Libanon geschaffen.
Aus Protest gegen den Umgang mit der Katastrophe haben bereits fünf Parlamentsabgeordnete ihre Mandate niedergelegt. Am Samstag erklärten die drei Abgeordneten der christlichen Katajeb-Partei ihren Rücktritt. "Ein neuer Libanon muss in den Ruinen des alten Libanon geboren werden", sagte der Abgeordnete Samy Gemajel bei der Trauerfeier für Katajeb-Generalsekretär Nasar Nadscharian, der bei der Explosionskatastrophe ums Leben kam.
Die genauen Ursachen der Explosionen sind noch unklar. 21 mutmaßliche Verantwortliche sitzen in Haft, darunter Zolldirektor Badri Daher. Forderungen nach einer internationalen Untersuchung wies Präsident Aoun am Freitag aber zurück.
by Von Layal ABOU RAHAL