In Armenien wächst der Protest gegen das Waffenstillstandsabkommen mit Aserbaidschan im Konflikt um die Kaukasus-Region Berg-Karabach. Trotz eines Versammlungsverbots gingen in der Hauptstadt Eriwan am Mittwoch mehr als 2000 Menschen gegen das Abkommen und gegen Regierungschef Nikol Paschinjan auf die Straße, wie AFP-Reporter berichteten. Im überwiegend von Armeniern bewohnten Berg-Karabach wurden derweil die ersten russischen Soldaten stationiert, die den Waffenstillstand überwachen sollen.
Die Demonstranten hatten sich nach einem Aufruf der Opposition zunächst auf dem Freiheitsplatz im Zentrum von Eriwan eingefunden. Mit Blick auf den Regierungschef skandierten sie: "Nikol, der Verräter" und "Berg-Karabach steht nicht zum Verkauf".
Mehrere Menschen wurden festgenommen, darunter der Chef der Oppositionspartei Blühendes Armenien, Gagik Zarukjan. Die Polizei forderte zunächst ein Ende der nicht zugelassenen Kundgebung, ließ die Demonstranten aber schließlich gewähren. Zahlreiche Menschen zogen daraufhin in Richtung des Regierungssitzes, der bereits in der Nacht zum Dienstag von wütenden Demonstranten gestürmt worden war.
Unter den Demonstranten waren auch Flüchtlinge aus Berg-Karabach sowie Angehörige junger Männer, die an die Front geschickt worden waren. "Der Ministerpräsident hat uns verkauft, er hat unser Land, unser Haus verkauft", sagte ein Demonstrant unter Tränen vor laufenden Fernsehkameras.
Die verfeindeten Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan hatten sich in der Nacht zum Dienstag nach wochenlangen schweren Kämpfen auf einen Waffenstillstand in Berg-Karabach geeinigt. Das Abkommen sieht vor, dass beide Kriegsparteien jene Gebiete behalten dürfen, in denen sie derzeit die Kontrolle haben. Für Armenien bedeutet das große Gebietsverluste. Aserbaidschan hatte im Laufe der Kämpfe mit türkischer Unterstützung gut 15 bis 20 Prozent des Territoriums von Berg-Karabach erobert.
Bei der Vorstellung des Abkommens hatte Paschinjan von einer "unsäglich schmerzhaften Entscheidung" gesprochen, zu der er nach einer "eingehenden Analyse der militärischen Lage" gekommen sei. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew bejubelte indes eine "Kapitulation" des Nachbarlands. Auch der armenische Oppositionsabgeordnete Arman Abowian warf Paschinjan am Mittwoch vor, "kapituliert" zu haben.
Die auf Konflikte spezialisierte International Crisis Group (ICG) warnte am Mittwoch vor der Fragilität des Waffenstillstandsabkommens. Aserbaidschan habe im Konflikt um Berg-Karabach militärisch gesiegt und Armenien eine "vernichtende Niederlage" zugefügt, hieß es in einem Bericht der Experten. "Eine Demütigung kann aber keine starke Basis für nachhaltigen Frieden sein."
Zur Kontrolle des Waffenstillstands kündigte Russland die Entsendung von insgesamt 1960 Soldaten und hunderten Armeefahrzeugen an die Frontlinien an. Sie sollen in den kommenden fünf Jahren unter anderem einen Korridor absichern, der den Bezirk Latschin in Berg-Karabach mit dem armenischen Staatsgebiet verbindet.
Die ersten 414 russischen Soldaten sowie dutzende Armeefahrzeuge seien bereits in Berg-Karabach eingetroffen, teilte die Armee am Mittwoch mit. Die Streitkräfte kontrollierten nun die Verbindungsstraße zwischen Latschin und Armenien. Laut dem russischen Armeevertreter Sergej Rudskoy waren die Soldaten in der Vergangenheit auch zu "humanitären" Einsätzen in Syrien. Laut Rudskoy sollen an der Kontaktlinie in Berg-Karabach und entlang des Latschin-Korridors in naher Zukunft 16 Beobachtungsposten entstehen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Dienstag erklärt, türkische Streitkräfte würden den Waffenstillstand gemeinsam mit russischen Soldaten überwachen. Kreml-Sprecher Dmitry Peskow sagte dagegen am Mittwoch, gemeinsame türkisch-russische Patrouillen seien bislang kein Thema gewesen. Das christlich geprägte Armenien und mehrere EU-Staaten hatten Ankara vorgeworfen, zur Unterstützung Aserbaidschans islamistische Söldner aus Syrien in das Konfliktgebiet entsandt zu haben.
Berg-Karabach hatte während des Zerfalls der Sowjetunion einseitig seine Unabhängigkeit erklärt. Darauf folgte in den 90er Jahren ein Krieg mit 30.000 Toten. Die selbsternannte Republik wird bis heute international nicht anerkannt und gilt völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans. Sie wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Die Kämpfe waren Ende September wieder voll entbrannt. Seither wurden nach Angaben beider Seiten mehr als tausend Menschen getötet.
by Karen MINASYAN