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Taliban stehen vor afghanischer Hauptstadt Kabul

Miliz nimmt ehemaligen Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif ein

Nach ihrem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan stehen die radikalislamischen Taliban inzwischen vor den Toren Kabuls. Angesichts des raschen Vorrückens der radikalislamischen Miliz sprach Präsident Aschraf Ghani am Samstag im Fernsehen seinen Landsleuten Mut zu. Ein weiteres Blutvergießen werde er nicht zulassen, sagte er. Die USA und andere westliche Staaten wie Deutschland und Großbritannien bereiten unterdessen unter Hochdruck die Ausreise ihres zivilen Personals sowie tausender Ortskräfte vor.

Ghani äußerte sich erstmals seit Beginn der Taliban-Offensive in einer Rede an die Nation. "Ich werde nicht zulassen, dass der auferlegte Krieg gegen die Bevölkerung mehr Tote fordert", sagte er. Es seien "ernsthafte Schritte" zur Remobilisierung der Armee eingeleitet worden. Zudem liefen "Beratungen" mit politischen Verantwortungsträgern und internationalen Partnern, um Afghanistan "Frieden und Stabilität" zu sichern.

Genauere Angaben machte Ghani nicht. In einer später vom Präsidentenpalast veröffentlichten Mitteilung hieß es lediglich, die Regierung werde zeitnah eine verhandlungsfähige "Delegation" einsetzen.

Laut dem Kabuler Experten Sajed Naser Mosawi scheinen Ghani die Optionen auszugehen: Die Botschaft habe nicht so geklungen, als sei der Präsident bereit, "bis zum Ende zu kämpfen", sagte er. Vielmehr habe er den Eindruck als wolle Ghani "eine Art von Einigung" erzielen. Möglicherweise sei er sogar zur Kapitulation bereit.

Die USA hatten der afghanischen Armee zuvor mangelnden Einsatzwillen vorgeworfen. Washington beobachte mit "großer Sorge", mit welcher Geschwindigkeit die Taliban ihre Kontrolle ausbauten sowie den "Mangel an Widerstand, mit dem sie konfrontiert sind", kritisierte Pentagon-Sprecher John Kirby.

In zahlreichen Provinzen hatten die afghanischen Regierungstruppen gegenüber den vorrückenden Taliban kaum oder gar keinen Widerstand geleistet. Nach dem Fall der zweit- und der drittgrößten Stadt des Landes ist Kabul de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen.

Am Samstag eroberten die Taliban auch die wichtigen Städte Asadabad und Gardes und schließlich Masar-i-Scharif, die Hauptstadt der Provinz Balch und die größte Stadt im Norden Afghanistans. Dort hatte die Bundeswehr zuletzt ihr größtes Feldlager. "Sie paradieren mit ihren Fahrzeugen und Motorrädern und schießen in die Luft, um zu feiern", sagte der Einwohner Atiqullah Ghajor der Nachrichtenagentur AFP. Die afghanische Armee habe sich aus der Stadt zurückgezogen.

Auch die afghanischen Kriegsherren Abdul Raschid Dostum und Atta Mohammed Noor, deren Milizen die Regierungstruppen im Kampf gegen die Taliban im Norden des Landes unterstützen sollten, seien inzwischen nach Usbekistan geflohen, berichtete einer ihrer Helfer.

Nach der Einnahme der Provinzhauptstadt Pul-i-Alam lagern die islamistischen Kämpfer nur noch rund 50 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Washington entsandte tausende zusätzliche US-Soldaten nach Kabul, die nach Pentagon-Angaben das Ausfliegen tausender Menschen täglich gewährleisten sollen.

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) kündigte an, Botschaftspersonal und Ortskräfte "schnellstmöglich" aus Afghanistan zu holen. Die Bundeswehr werde das Auswärtige Amt bei der Rückführung Deutscher Staatsbürger und weiterer zu Schützender aus nach Deutschland unterstützen.

Bewohner von Kabul reagierten angesichts der näherrückenden Taliban panisch. Vor Banken bildeten sich am Samstag lange Schlangen, einigen Filialen ging offenbar das Bargeld aus. Zehntausende Menschen waren bereits in den vergangenen Tagen aus anderen Landesteilen nach Kabul geflüchtet, um sich vor den Islamisten in Sicherheit zu bringen.

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet. UN-Generalsekretär António Guterres sprach am Freitag von "entsetzlichen" Berichten über Menschenrechtsverletzungen in jenen Gebieten, die nun wieder von der Miliz kontrolliert werden

In einem Appell am Samstag forderte die katarische Regierung die Taliban zu einem Waffenstillstand auf. Doha richtet die innerafghanischen Friedensgespräche aus, die seit Monaten nicht vorankommen.

by Von Usman SHARIFI