85804:

Situation am Kabuler Flughafen spitzt sich gefährlich zu

Bundeswehr-Hubschrauber in Kabul - Gespräche der Taliban über Regierungsbildung

Bei ihren Rettungsaktionen in Afghanistan sehen sich Deutschland und andere Nato-Staaten mit einer sich gefährlich zuspitzenden Sicherheitslage am Kabuler Flughafen konfrontiert. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, sprach am Samstag von einer "schwierigen" und "dynamischen" Situation insbesondere vor den Toren des Airports. Es gebe deshalb immer wieder Gate-Schließungen. Angesichts der dramatischen Lage seit der Machtübernahme der Taliban wächst die Kritik vor allem an Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte am Samstag, es werde trotz der schwierigen Lage daran gearbeitet, so viele Menschen "wie möglich" aus Afghanistan in Sicherheit zu bringen. Laut Zorn wurde zur Entspannung der Lage auf dem Flughafen selbst eine deutsche Maschine mit Hilfsgütern wie Wasser und Babynahrung zusammengestellt. Bei Temperaturen von mehr als 30 Grad harren derzeit tausende Menschen auf dem Flughafen aus.

Die Bundeswehr setzte ihre Evakuierungsflüge über die Luftbrücke zwischen Kabul und Taschkent auch am Samstag fort. Gegen 11.00 Uhr (MESZ) startete ein A400M mit allerdings nur acht schutzbedürftigen Menschen aus Kabul. Bis Samstag flog die Bundeswehr nach Angaben Kramp-Karrenbauers knapp 2000 Menschen aus Kabul aus.

Wie gefährlich und chaotisch die Lage rund um den Flughafen ist, zeigte sich daran, dass US-Soldaten mit Hubschraubern losfliegen mussten, um am Freitag 169 Menschen sicher zum Flughafen zu bringen. Grund sei eine "große Menschenmenge" vor dem Flughafen, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby.

Auch die Bundeswehr schickte zwei Hubschrauber nach Kabul, die laut Kramp-Karrenbauer am Samstag startbereit waren. Der genaue Einsatz der Hubschrauber erfolge in Abstimmung mit den internationalen Partnern in Kabul. "Das obliegt der Verantwortung und Freiheit derjenigen, die das vor Ort entscheiden müssen."

Auf dem Weg zum Flughafen war am Freitag ein Deutscher angeschossen worden. Er wurde nicht lebensgefährlich verletzt. Ein weiterer Deutscher erlitt nach ZDF-Informationen in der Nähe des Flughafens leichte Verletzungen.

Die USA nutzen für ihre Rettungsflüge aus Kabul inzwischen auch die Luftwaffenbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz als Drehscheibe. Bis zum späten Samstagvormittag landeten dort nach Angaben einer Sprecherin des Stützpunkts elf Maschinen mit rund 1150 Menschen. Sie würden vor ihrer Weiterführung in "ein paar Tagen" zunächst medizinisch in Ramstein versorgt.

In Deutschland sollen ausgeflogene Afghanen, die noch keine Aufenthaltszusage hatten, laut einem "Wir"-Bericht vorerst ein Visum für 90 Tage erhalten. Ihr Status soll in dieser Zeit geklärt werden. Neben Ortskräften, die oft bereits auf Listen der Bundesregierung stehen, sollen auch Frauen- oder Menschenrechtsaktivisten ausgeflogen werden. Die Linke forderte, auch Familienangehörige von bereits in Deutschland lebenden Afghanen aufzunehmen.

Angesichts der dramatischen Lage griff Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die Bundesregierung scharf an. "Ich sehe ein riesengroßes Versagen", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung" vor allem mit Blick auf Außenminister Maas und Innenminister Horst Seehofer (CSU). Seit Monaten sei klar gewesen, dass afghanische Ortskräfte Schutz bräuchten. Auch die Linke sprach von einem "Totalversagen" von Maas und anderen Ministern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) räumte bei einer Wahlkampfveranstaltung der Union Fehleinschätzungen ein. "Die afghanische Regierung und Armee sind in einem atemberaubenden Tempo kollabiert", sagte sie.

Unklar blieb derweil, wie genau die künftige Taliban-Führung in Afghanistan aussehen soll. Zu Gesprächen über die Regierungsbildung reiste Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar nach Kabul. Ziel sei die Bildung einer "inklusiven Regierung", sagte ein Taliban-Vertreter der Nachrichtenagentur AFP. Baradar wird als möglicher neuer Regierungschef der Taliban gehandelt.

Beamte der bisherigen Regierung berichteten derweil, sie seien von Taliban-Kämpfern von der Arbeit abgehalten worden. Der Beamte Hamdullah sagte, vor seinem Büro stationierte Taliban-Kämpfer hätten ihm gesagt, er solle "im Fernsehen oder Radio verfolgen, wann ich zur Arbeit zurückkehren soll".

by Javed Tanveer