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Selenskyj will nach Aufhebung von Antikorruptions-Gesetzen Verfassungsgericht auflösen

Hunderte Menschen demonstrieren in Kiew gegen umstrittene Gerichtsentscheidung

Nach einem umstrittenen Urteil zur Aufhebung zentraler Anti-Korruptionsgesetze in der Ukraine will Präsident Wolodymyr Selenskyj das Verfassungsgericht auflösen lassen. Der Staatschef brachte im Parlament einen Gesetzentwurf zur "Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in die Verfassungsjustiz" ein. Der Vorsitzende Richter kritisierte das Vorhaben am Freitag als "Verfassungsputsch". Hunderte Menschen demonstrierten derweil in Kiew für eine Aufrechterhaltung der Anti-Korruptionsmaßnahmen.

Sollte das Parlament Selenskyjs Antrag bewilligen, käme dies einer faktischen Annullierung der Gerichtsentscheidung vom Mittwoch gleich. Auch würde mit der Auflösung des derzeitigen Gerichts automatisch der Prozess zu seiner Neubesetzung angestoßen.

Der Präsident des Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupytsky, sagte bei einer Pressekonferenz, der von Selenskyj eingebrachte Gesetzentwurf trage die Handschrift eines versuchten "Verfassungsputsches". Ziel des Vorhabens sei es, ein "neutrales, folgsames Gericht" zu schaffen. "Ich mache dem Präsidenten keinen Vorwurf, aber seine Mitarbeiter machen einen schlechten Job."

Die Verfassungsrichter hatten eine Reihe von seit Jahren geltenden Anti-Korruptionsgesetzen als ungültig erklärt, darunter eine Regelung, wonach Angaben zu Vermögenswerten von ranghohen Verwaltungsbeamten öffentlich einsehbar sein müssen. Auch ein Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung von Steuerhinterziehung bei Beamten wurde aufgehoben. Das Urteil sorgte landesweit für Entrüstung. Selenskyj bezeichnete das Urteil als "inakzeptabel" und als "Gefahr für die nationale Sicherheit".

Am Freitag zogen hunderte Menschen vor das Gerichtsgebäude in Kiew, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Die Demonstranten hielten Plakate in die Höhe mit Aufschriften wie: "Ukrainisches Korruptionsgericht" und "Werft die Schweine aus dem Verfassungsgericht". Die 28-jährige Anti-Korruptions-Aktivistin Iryna Schyba sagte der Nachrichtenagentur AFP, ohne angemessene Gesetzgebung würden "die meisten Regierungsbeamten straffrei stehlen und das ukrainische Budget und die Ukraine ausbeuten".

Einige Demonstranten warfen Rauchgranaten auf das Gerichtsgebäude und drohten, das Gebäude zu stürmen. Bereitschaftspolizisten beobachteten das Geschehen, schritten aber nicht ein.

Das ukrainische Rechtssystem gilt als notorisch korrupt. Mehrere Verfassungsrichter sind selbst in strafrechtliche Ermittlungen verwickelt. Ihnen wird vorgeworfen, falsche Steuererklärungen abgegeben zu haben.

Selenskyj hatte nach der Gerichtsentscheidung eine Dringlichkeitssitzung des Nationalen Sicherheitsrates einberufen. Der 42-jährige frühere Schauspieler und Komiker war im vergangenen Jahr an die Staatsspitze gekommen, nachdem er mit einem ehrgeizigen Anti-Korruptionsprogramm Wahlkampf betrieben hatte.

Westliche Staaten fordern das osteuropäische Land seit Jahren zu einem entschlosseneren Kampf gegen die Korruption auf. Seit den prodemokratischen Massenprotesten 2014, die zum Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch führten, wurden in dem Land mehrere Antikorruptionsbehörden eingerichtet, darunter ein spezielles Anti-Korruptionsgericht.

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International nimmt die Ukraine jedoch nach wie vor lediglich Platz 126 von 198 ein. Die EU hat die Regierung in Kiew vor einer Aussetzung der Visafreiheit für ukrainische Bürger gewarnt, sollte es keine maßgeblichen Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung geben.

by Sergei SUPINSKY