Hat die Ukraine genug Soldaten, um den russischen Vormarsch aufzuhalten? Oder hat Präsident Wolodymyr Selenskyj zu lange gezögert, eine echte Mobilmachung durchzuführen, sodass es nun zu spät ist? Die Lage in der Ukraine ist mehr als angespannt!
Die Lage im Osten der Ukraine verschärft sich zunehmend. Innerhalb einer Woche hat die ukrainische Armee vier Dörfer und eine Stadt in der Region Donezk verloren. Auch in Charkiw hat Russlands Invasionsarmee ihr erstes Dorf seit Monaten erobert. Neben dem Mangel an westlichen Waffen und Munition fehlt es den Streitkräften in Kiew auch an ausgebildeten Soldaten an allen Fronten. Trotz einer theoretischen Generalmobilmachung hat die Ukraine derzeit nur 15 Prozent ihrer wehrfähigen Männer in Uniform. Dmytro Kukharchuk, Kommandeur der 3. Separaten Brigade, sagte dem TV-Sender "Wir sind die Ukraine": "Wir halten stand, aber wir haben ein Problem. Früher habe ich gesagt, das größte Problem sei der Mangel an Artillerie-Granaten, aber heute ist es der Mangel an menschlichen Ressourcen."
Ein ukrainischer Marineinfanterist mit dem Decknamen "Kriegsforscher" bemängelt, dass "nachdem der Präsident die Mobilisierung so lange hinausgezögert hat", zwar Waffen und Ausrüstung vom Westen bereitgestellt werden, aber niemand ausgebildet sei, sie zu bedienen. Auch deutsche Experten betrachten die Folgen einer zu langsamen, zu begrenzten und bisher sehr selektiven Mobilmachung in der Ukraine kritisch. Roderich Kiesewetter, Verteidigungsexperte der Union, sagte zu BILD: "Neben der schleppenden und unzureichenden militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung des Westens ist das große Dilemma der Ukraine die faire Mobilisierung." Es sei "eine der Hauptaufgaben von Selenskyj, eine Mobilisierungsstrategie und ein Modell zu entwickeln, das zu mehr Fairness, Planbarkeit und zur Aufrechterhaltung eines hohen Kampfwerts führt. Ein solches System existiert noch nicht in der Ukraine."
Laut Kiesewetter sind "die besten, gut ausgebildeten und erfahrenen Soldaten gefallen, verletzt oder befinden sich seit zwei Jahren fast ununterbrochen im Einsatz." Viele ukrainische Soldaten seien "völlig erschöpft, weil Ruhe- und Erholungsphasen aufgrund von Personalmangel nicht möglich sind. Das senkt den Kampfwert und die Moral." Auch der Militärexperte Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz glaubt nicht, dass die Ukraine im dritten Jahr des russischen Angriffskriegs eine angemessene Mobilisierungsstrategie hat. "So ehrenwert die ukrainische Idee ist, junge Männer nicht einzuziehen - die körperlichen Belastungen sind hoch, Ausrüstung und Munition sind sehr schwer, jüngere Soldaten könnten das besser bewältigen als die vielen Mittvierziger, die derzeit an der Front sind", erklärte Lange gegenüber BILD. Der ehemalige leitende Beamte im deutschen Verteidigungsministerium kritisierte, dass die ukrainische Führung "mit taktischen Überlegungen viel Zeit verloren" habe. Lange richtete klare Worte an Selenskyj: "Jetzt ist Führung gefragt, gerade bei so einer schwierigen Frage."