In ungewohnter Deutlichkeit haben russische Medien und Aktivisten das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte kritisiert, nachdem im Zusammenhang mit den Großdemonstrationen gegen Kreml-Chef Wladimir Putin auch ein Journalist festgenommen worden war. Die Festnahme des Chefredakteurs der Nachrichtenplattform "Mediasona", Sergej Smirnow, sei ein "Einschüchterungsversuch" gegenüber allen Journalisten, schrieb die Zeitung "Kommersant" am Donnerstag. Der Umgang mit Regierungskritikern überschattet auch den mehrtägigen Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.
Borrell, der im Laufe des Donnerstags in Moskau eintreffen sollte, ist der erste EU-Außenbeauftragte seit 2017, der Russland besucht. Schon im Vorfeld hatte der Spanier angekündigt, dem Kreml während der bis Samstag dauernden Reise "klare Botschaften" zu überbringen.
In der EU hatten zuletzt das Hafturteil gegen den prominenten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny und den Umgang mit friedlichen Demonstranten, die für Nawalnys Freilassung und gegen den russischen Präsidenten Putin auf die Straße gingen, für Empörung gesorgt. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen am vergangenen Sonntag sowie am Wochenende zuvor waren nach Angaben der Nichtregierungsorganisation OWD-Info mehr als 10.000 Menschen festgenommen worden.
Zu einer weiteren Eskalation kam es am Tag vor Borrells Ankunft in Moskau: Ein Gericht in der russischen Hauptstadt verurteilte den "Mediasona"-Chefredakteur Smirnow zu 25 Tagen Haft. Er hatte zuvor eine Twitter-Botschaft weiterverbreitet, die neben satirischer Bemerkungen auch einen Aufruf zur Teilnahme an den Protesten für den inhaftierten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny beinhaltete.
Die reichweitenstarke Zeitung "Kommersant" forderte Smirnows Freilassung und verurteilte das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Oppositionelle insgesamt. "Das Problem beschränkt sich nicht auf die Presse", schrieb die Zeitung, die einem Putin-Vertrauten gehört. "In den vergangenen Wochen wurden wir Zeugen eines extrem harten Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten." Massenfestnahmen und Gewalt dürften "nicht zur Norm in unserem Land werden".
Die Wirtschaftszeitung "RBC" schrieb, ihre Reporter hätten während der Proteste "Festnahmen und Gewaltanwendung" gegen Medienvertreter beobachtet. Die Justizbehörden müssten die Festnahme Smirnows und anderer Journalisten öffentlich erklären, forderte das Blatt.
Die Menschenrechtsorganisationen Memorial und prominente Aktivisten zeigten sich in einer gemeinsamen Erklärung besorgt angesichts der "beispiellosen Eskalation unbegründeter Gewalt". "Niemals in der modernen Geschichte Russlands hat es eine so große Zahl an Menschen gegeben, die geschlagen, verhaftet oder festgenommen wurden."
Borrells Russland-Reise inmitten der politischen Turbulenzen in dem Land hatte in einigen europäischen Hauptstädten für Kritik gesorgt. Befürchtet wird, dass Putin den Besuch als Signal darstellen könnte, dass die EU trotz des Umgangs mit Nawalny und seinen Anhängern zur Normalität zurückkehren wolle.
Borrells Besuch sei ein "heikler diplomatischer Balanceakt", sagte Borrells Sprecher Peter Stano am Donnerstag. Für die EU sei jedoch "sehr klar, was wir tun wollen, was wir sagen wollen und was wir erreichen wollen."
In Borrells Gesprächen in Moskau soll es unter anderem um die mögliche Wiederbelebung des internationalen Atomabkommens mit dem Iran, aber auch um die russische Rolle in den Konflikten in Syrien, Libyen, der Zentralafrikanischen Republik, Belarus sowie im südlichen Kaukasus gehen.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte am Donnerstag, dass die "bestehenden Differenzen" zwischen Brüssel und Moskau offen angesprochen werden könnten. "Wir wollen unseren Dialog von der Blockade befreien." Die Kritik am Umgang der Behörden mit Oppositionellen wies Peskow erneut zurück. "Es gibt keinerlei Repression", sagte er.
Nawalny hatte dem Kreml zuvor eine Einschüchterungstaktik vorgeworfen. Der 44-Jährige war Mitte Januar bei seiner Rückkehr nach Moskau festgenommen worden. Er war zuvor in Deutschland nach einem Giftanschlag behandelt worden, für den er die russische Regierung verantwortlich macht. Ein Moskauer Gericht hatte dann am Dienstag entschieden, dass Nawalny eine bereits verhängte Bewährungsstrafe aus dem Jahr 2014 nun in einer Strafkolonie verbüßen muss. Dies läuft seiner Anwältin zufolge auf etwa zwei Jahre und acht Monate Haft hinaus.
by Von Anna SMOLCHENKO und Max DELANY