Putin von allen Seiten belagert! Der Chef der Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, inszeniert seinen Aufstand als “Marsch der Gerechtigkeit” gegen eine unfähige Militärführung. Tatsächlich könnte sein fehlgeschlagener Putschversuch als Vorlage für einen besser durchdachten Staatsstreich dienen. Putin wird angegriffen, aus den eigenen Reihen! Wie lange kann er sich noch halten?
Es war ein beeindruckendes Schauspiel, inszeniert ausgerechnet vom ehemaligen Vertrauten Putins, Jewgeni Prigoschin, dem Gründer einer berüchtigten Trollfabrik und seit 2014 Chef der Privatarmee Wagner. Am 24. Juni übernahmen die Wagner-Söldner kampflos das Kommando über den südlichen Militärbezirk in Russland, legten fast ungestört eine Strecke von 780 Kilometern in Richtung Moskau zurück und schossen dabei sechs Aufklärungshubschrauber und ein Militärflugzeug ab. Kurz vor dem Fluss Oka, 200 Kilometer südlich der russischen Hauptstadt, stoppten die Wagner-Truppen plötzlich. Ihr Anführer beendete den “Marsch der Gerechtigkeit” genauso überraschend, wie er ihn begonnen hatte. Vor und nach dem langen Wochenende der Sommerwende 2023 liegen Welten. Viele Hintergründe dieses unglaublichen Putsches liegen noch im Dunkeln. Es ist unklar, ob Prigoschin eigenmächtig gehandelt hat oder Teil einer Verschwörung war. Auf den ersten Blick scheint es plausibel, dass es sich um eine verzweifelte persönliche Tat handelte.
Am 1. Juli sollte die Wagner-Gruppe in die reguläre Armee integriert und unter das Kommando von Generalstabschef Waleri Gerassimow gestellt werden. Sowohl der Oberbefehlshaber über die russischen Truppen in der Ukraine als auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu waren schon lange Ziel scharfer Kritik von Prigoschin, der die Entlassung der beiden hochrangigen Militärs forderte. Putin war jedoch nicht bereit, auf seine loyalen Untergebenen zu verzichten. Mit dem Verlust seiner Privatarmee drohten dem Wagner-Boss finanzielle Einbußen, Bedeutungslosigkeit und möglicherweise sogar unmittelbare Lebensgefahr, wie einige Quellen nahelegen. Doch auch die Theorie einer größeren Verschwörung ist nicht auszuschließen. Prigoschin hatte viele Sympathisanten in der Armee. Der nach dem Aufstand verschwundene General Sergej Surowikin fungierte als Bindeglied, um das operative Vorgehen der Söldner und der Armee an der ukrainischen Front abzustimmen.
Wenn es einen Verschwörungskreis gab, müssen Prigoschins Anhänger ihm im entscheidenden Moment die Unterstützung verweigert haben. Das würde erklären, warum er den Feldzug nach Moskau abrupt stoppte. Prigoschin war offensichtlich nicht bereit, eine bewaffnete Eskalation oder sogar blutige Straßenkämpfe in einer Millionenstadt zu riskieren. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB untersucht nun, wer wann von den Vorbereitungen für den Aufstand wusste. Verhaftungen, Gerichtsverfahren und die Suche nach inneren Feinden, Verrätern und ausländischen Agenten werden wahrscheinlich zunehmen. Mit dem Wagner-Aufstand zeichnete sich zum ersten Mal seit vielen Jahren die Möglichkeit eines Machtwechsels in Russland ab. Prigoschin konnte jedoch militärische Macht nicht in politische Macht umwandeln, da es noch keine revolutionäre Situation gab, wie Lenin es ausdrückte. Eine solche Situation entsteht laut dem Anführer der Oktoberrevolution von 1917, wenn die herrschende Klasse nicht mehr in der Lage ist, ihre Macht auszuüben und es zu einer tiefen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise kommt, die den Widerstand der Massen entfacht.
Russland ist noch nicht in diesem Stadium. Dennoch war Prigoschin für Putin, seinen Clan, den Kreml und die Eliten in jedem Fall ein “Black Swan” – ein unvorhergesehenes Ereignis mit signifikanten Auswirkungen. Obwohl der Aufstand abgeblasen wurde, kann die Bedeutung dieser Tat kaum überschätzt werden. Sie hat deutliche Schwachstellen im System aufgezeigt, die Prigoschin-Nachahmer ermutigen könnten. Es ist sicher, dass ein weiterer Putschversuch nur eine Frage der Zeit ist. Bei ihrem Marsch Richtung Moskau wurden die Kämpfer nicht aufgehalten, sondern von den Menschen in Rostow am Don fröhlich begrüßt, während im Kreml offensichtlich Panik ausbrach. Von einem Putin-Kult in der Bevölkerung kann nicht mehr die Rede sein. In Wirklichkeit ist der Graben zwischen der Kreml-Clique und der russischen Bevölkerung tief. Die jahrelang eingeübte apolitische Haltung zeigt sich in der Gleichgültigkeit der Menschen, die sich nicht betroffen fühlen, wenn “die da oben” Machtkämpfe austragen. Dass der Präsident am Ende noch einen undurchsichtigen Deal mit dem “Vaterlandsverräter” einging, war für gewöhnliche Menschen der beste Beweis dafür.
Das Ansehen Putins bei den politischen und bürokratischen Eliten, die vom System profitiert haben ist besonders gesunken. Die Grundfesten des Regimes stehen zwar noch, aber mit schwindender Legitimität schwindet auch die Loyalität gegenüber Putin. Seine Person wird nach und nach entheiligt. Es ist ein langsamer Erwachensprozess, der ausgerechnet durch Prigoschin beschleunigt wurde, der bisher als Putins “Mann fürs Grobe” galt. Das Versagen der politischen Führung, reale und nicht gefälschte Pläne für extremistische Straftaten aufzudecken oder den Bevölkerungsschutz in einer Krisensituation zu organisieren, war für alle sichtbar. In Russland finden im nächsten Jahr voraussichtlich am 17. März Präsidentschaftswahlen statt, also in etwa acht Monaten. Obwohl Putin bisher auf dem Thron geblieben ist, ist seine Zustimmung in der Bevölkerung keineswegs sicher. Die Verluste an Ansehen im In- und Ausland sind groß, und er kann sich nicht mehr als Stabilitätsanker präsentieren, insbesondere aufgrund des Ukraine-Kriegs und des Putschversuchs von Prigoschin. Zudem scheint es, dass viele Menschen nach 23 Jahren seiner Herrschaft einfach überdrüssig geworden sind.