Eine wundersame Wandlung
Er hat es geschafft: Oliver Kahn (50) wird Chef des FC Bayern München. Wie der deutsche Rekordmeister am Freitag bekannt gab, wird der frühere Kapitän zum 1. Januar 2020 in den Vorstand der FC Bayern München AG berufen. Kahn unterschrieb einen Fünf-Jahres-Vertrag. Am 31. Dezember 2021 übernimmt er vom noch amtierenden Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge (63) dessen Amt als Klub-Boss.
Damit ist der Generationswechsel bei den Bayern nicht nur eingeläutet, sondern wird unumkehrbar vollzogen. Mit Oliver Kahn bekommt der Verein eine neue Führungsfigur, die einen erstaunlichen Wandel vom äußerst erfolgreichen – aber auch äußerst eigenwilligen – Fußball-Profi hin zum seriösen und smarten Geschäftsmann hinlegte. Oder hätte ihm irgendjemand zu aktiver Zeit die Kunst der leisen, intelligenten Zwischentöne zugetraut, die er mittlerweile blind beherrscht?
Der gebürtige Karlsruher, Sohn eines in Lettland geborenen Deutsch-Balten, hat eine imposante aktive Laufbahn als Torhüter (128 Spiele für den KSC, 429 für Bayern München, 86 Länderspiele für Deutschland) auf den Rasen gebracht. Seine sportlichen Erfolge sind legendär: achtmal Deutscher Meister, sechsmal Deutscher Pokalsieger, UEFA-Pokalsieger, Champions-League-Sieger, Europameister, Vize-Weltmeister. Er wurde drei Mal Welttorhüter, vier Mal Europas Torhüter des Jahres, zwei Mal Deutschlands Fußballer des Jahres. Eine unfassbare Karriere.
Seinen Spitznamen zu aktiven Zeiten – der Titan – hat er aber nicht seinem Talent zu verdanken, sondern vor allem seinem unbeugsamen Willen und seiner eisernen Disziplin. Manche Gegenspieler und sogar eigene Kollegen haben diese bisweilen störrische, verbissene Siegermentalität mehr gefürchtet als geliebt. Oliver Kahn war als Spieler ein Besessener, einer der dem Erfolg alles untergeordnet hat. Sympathiepunkte wollte Kahn nie gewinnen, nur Trophäen. Er wollte der beste Torhüter der Welt sein und schaffte dies. Doch ohne Opfer ging das wohl nicht: Man glaubte, Schrammen in seinem Charakter sehen zu können.
Diese Verbissenheit explodierte hin und wieder, vor allem auf dem Platz, vor einem Millionen-Publikum. Dieser Ausbrüche brachten ihm viel Häme ein. Da steht ein Irrer bei den Bayern im Tor, dachten viele. Und Kahn fütterte diese Meinung immer wieder: Beim Spiel gegen Borussia Dortmund im April 1999 wollte er seinem Gegenspieler Heiko Herrlich in den Hals beißen. Im selben Match versuchte Kahn wie von Sinnen mit dem gestreckten Bein in den damaligen Dortmund-Star Stéphane Chapuisat hineinzuspringen.
Gegen Bayer Leverkusen – einige wenige Jahre später – packte er den gegnerischen Stürmer Thomas Brdaric im Nacken und schüttelte ihn heftig durch. Legendär wurde auch sein Wutausbruch gegenüber seinem eigenen Mitspieler Andreas Herzog, der anschließend seinen Torwart nur ungläubig ansehen konnte. Kahn hatte sich oft nicht im Griff, wurde aber auch in jedem gegnerischen Stadion aufs Übelste beschimpft und regelmäßig mit Bananen beworfen. Seine Nerven waren sichtbar für jeden schier unmenschlich gespannt. Und von Zeit zu Zeit rissen sie. Mitten im Scheinwerferlicht.
Aber er wurde auch geliebt, nicht nur wegen seines überragenden Torwartspiels, sondern weil er sich nicht abgehoben präsentierte. Das wohl bekannteste Beispiel: Nach einer 0:2 Niederlage auf Schalke sagte Kahn auf die Frage eines Reporters, was den Bayern gefehlt habe, nur ein Wort: “Eier!” Als der Journalist nachhakte, “habe ich Sie richtig verstanden?”, antwortete der Titan: “Ich sag’ ja: ‘Eier, wir brauchen Eier!'” Auch sein Jubelausbruch nach dem überraschenden Titelgewinn der deutschen Meisterschaft 2001 im Hamburger Volksparkstadion in aller letzten Minute brachte ihm jede Menge Sympathien ein.
Endgültig in das Herz von vielen deutschen Fußball-Fans, die keine Bayern-Unterstützer sind, katapultierte sich Kahn aber im Herbst seiner Karriere im Trikot der Nationalmannschaft. Nach einer durchwachsenen Saison 2005/06 setzte der damalige Trainer Jürgen Klinsmann verständlicherweise Oliver Kahn auf die Bank und erklärte dessen ewigen Rivalen Jens Lehmann zum Torhüter Nummer eins bei der WM im eigenen Land.
Damit zerplatzte ein Traum für Oliver Kahn und jeder, auch seine härtesten Kritiker, hätten verstanden, wenn er wutentbrannt seine Sachen gepackt und hingeschmissen hätte. Doch Kahn reagierte komplett anders: Er akzeptierte die Entscheidung und setzte sich ohne Murren auf die Bank. Er, der mehrfache Welttorhüter. Der eigentlich Unbesiegbare war nur noch die Nummer zwei. Doch mit diesem sanften Verhalten läutete er spätestens jetzt seinen Wandel ein.
Aufsehen erregte er zuvor auch außerhalb des Spielfelds, als er seine damalige Ehefrau Simone (zwei Kinder) verließ und mit dem It-Girl Verena Kerth durch München zog. Zwar kehrte er 2008 zur Ehefrau zurück, doch ein Jahr später teilte er offiziell seine endgültige Trennung mit. Seit 2011 ist aber auch an dieser Front absolute Ruhe eingekehrt: Oliver Kahn ist seitdem mit dem Model Svenja Kögel verheiratet, mit der er einen Sohn (geb. 2011) und eine Tochter (geb. 2016) hat.
Nach dem endgültigen Karriereende als Torwart im Jahr 2008 belegte er an der österreichischen Privatuniversität Schloss Seeburg den Studiengang General Management mit dem Nebenfach Sportmanagement, was er 2011 mit dem akademischen Grad Master of Business Administration abgeschlossen hat. Ein Manager-Angebot von Schalke 04 lehnte er ab.
Mit dem Studium und dem Umstieg von der kurzen auf die lange Hose lernte die Öffentlichkeit endgültig einen neuen Oliver Kahn kennen. Seit 2008 kommentiert Kahn im ZDF als Experte Fußball-Großereignisse wie Welt- und Europameisterschaften. Und das Publikum, vor allem diejenigen, die Kahn noch aus seiner aktiven Zeit kennen, staunen bis heute: von Ruppigkeit und Verbissenheit ist schon längst überhaupt keine Spur mehr. Der Titan analysiert präzise, klug und nachvollziehbar für die Zuschauer – lächelnd und locker. Deswegen wurde ihm 2015 und 2017 der Deutsche Sportjournalistenpreis “Bester Sportexperte” verliehen.
Kahn ist nicht nur Markenbotschafter des Wettanbieters Tipico, er hat auch das Unternehmen Goalplay gegründet. Die Firma versorgt weltweit aktive Sportler nicht nur mit Torwartprodukten, sondern bietet mit der Goalplay Academy Vereinen, Verbänden und Sportschulen auch Unterstützung und Austausch für die Torwartausbildung nebst einer Onlineschulung an. Daneben hält Kahn für andere Unternehmen Fachvorträge zu Themen wie “Ziele”, “Erfolg”, “Scheitern”, “Selbstführung” und “Motivation”.
Auch auf sozialer Ebene ist Kahn seit vielen Jahren aktiv. So unterstützt er die Aktion buntkicktgut, die sich in ganz Europa um Kinder und Jugendliche verschiedener kultureller und sozialer Herkunft kümmert. Und er hat die Oliver-Kahn-Stiftung gegründet, die daran arbeitet, weltweit Bildungszentren aufzubauen, “um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche mit der Kraft des Fußballs zu motivieren und zu fördern.”
Nun folgt also der nächste und wahrscheinlich bislang größte Schritt seit seiner aktiven Karriere: In wenigen Monaten wird Oliver Kahn die Geschickte des ruhmreichen FC Bayern München lenken und leiten. Dass die derzeitigen Macher der Bayern rund um Hoeneß, Rummenigge und Co. sich für den Titan als Boss entschieden haben, überrascht nur, wenn man sich ein Kahn-Porträt aus dem Jahre 2005 ansieht. 2019 hingegen scheint die Entscheidung konsequent und richtig.
(dr/ln/spot)