CDU-Politiker starb mit 84 Jahren
Er war ein zähes Stehaufmännchen. Das musste man auch sein, wenn man 16 Jahre lang unter einem Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017) als Minister gearbeitet hat, da entwickeln sich ungeahnte Nehmerqualitäten. Den Humor, den es dafür ebenso brauchte, hatte Norbert Blüm von Haus aus. Nun ist der “Rummelboxer der Politik”, wie er sich zeitweise selbst sah, mit 84 gestorben, wie sein Sohn Christian Blüm (54) mitgeteilt hat. Wieder einer weniger, für den Politik eher eine Frage des Anstands als des Erfolgs war.
Norbert Blüm hatte zuletzt eine schwere Zeit hinter sich bringen müssen. 2019 war er nach einer Sepsis (Blutvergiftung) ins Koma gefallen. Als er wieder erwachte, konnte er weder Arme noch Beine bewegen. Erst Anfang März 2020 wurde der gelähmte Politiker nach monatelangem Klinik-Aufenthalt nach Hause entlassen.
In einem erschütternden Beitrag für die Wochenzeitung “Die Zeit”, den er seiner Frau Marita diktiert hatte, beschrieb Blüm eindringlich seinen Zustand: “Noch nehme ich das Urteil nicht ganz so ernst, wie ich eigentlich müsste, weil mein Lebensgefühl es nicht akzeptiert, auf Dauer gelähmt zu sein. Aber darauf nehmen Fakten keine Rücksicht. Mit Unbehagen denke ich schon an kommende Zeiten, wo ich das ganze Ausmaß des Dilemmas erkennen muss.”
Er fühle sich “wie eine Marionette, der sie die Fäden gezogen haben, sodass ihre Teile zusammenhangslos in der Luft baumeln”. Die Lähmung verändere “die Proportionen. Aus Bagatellen werden Problemfälle. Mich reizt gerade unter dem linken Auge ein Jucken. Früher hätte ich mit einem Handstrich den Juckreiz beseitigt. Heute kann meine Hand das nicht. Und so muss ich geduldig ausharren, bis der Reiz aufgibt”.
Selbst diese letzte schriftliche Mitteilung von Norbert Blüm verrät seine geistige Handschrift, seine Gabe zur präzisen Beobachtung, mit der er seine Körperlähmung auf ein Problemchen mit dem Juckreiz unter dem Auge reduziert. Das hat auch was mit den Blüm’schen Humor zu tun: Obwohl das Thema so ernst ist, möchte man unwillkürlich schmunzeln bei der Vorstellung, wie der witzige und gewitzte Herr Blüm sich am Auge kratzen will, aber nicht kann…
Dass Norbert Blüm Probleme sehr viel anschaulicher darstellen konnte als fast alle anderen Politiker, liegt auch daran, dass er das wahre Leben viel besser kannte. Er hat keine Elite-Laufbahn hinter sich gebracht, sondern 1949 nach seinem Volksschulabschluss mit einer Werkzeugmacherlehre bei Opel in seiner südhessischen Heimatstadt Rüsselsheim begonnen. Bis 1957 arbeitete er an der Werkbank.
Sein gesellschaftlicher und politischer Aufstieg war ein mühevoller Weg über das Abendgymnasium und dem anschließenden Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie, das er mit dem Dr. phil abschloss. Der gläubige Katholik hat sich bereits als 15-Jähriger der CDU angeschlossen, wo er allerdings die eher linken Positionen der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) vertrat. Bevor ihn sein Förderer Helmut Kohl 1982 in sein Kabinett berief, machte sich Blüm in den Sozialausschüssen der CDU und (ab 1972) im Bundestag einen Namen.
Kohl und Blüm wurden so etwas wie Plisch und Plum der 80er- und 90er-Jahre. Allein ihr optisches Erscheinungsbild war wie ein politischer Cartoon der Marke “Bild ohne Worte”. Der körpermächtige Kanzler (1,93 m) mit der bemühten Mimik des Bedeutsamen, neben, das heißt unter, ihm sein Minister für Arbeit und Sozialordnung (1,64 m), der dreinschaute, als müsse er jeden Augenblick in lautes Lachen ausbrechen.
16 Jahre regierten sie zusammen, der Ober und sein Unter. Die Loyalität kannte nur eine Richtung: von unten nach oben. Wenn Blüm sein ständiges Motto – “Die Rente ist sicher!” – wie ein Mantra ins Volk posaunte, lächelte Kohl gnädig. Wenn aber Blüm furchtlos auf den Chile-Diktator Pinochet losging und 16 Todeskandidaten das Leben rettete, schwieg Kohl, auch als CSU-Boss Franz Josef Strauß höhnte, der Norbert sei ein “Herz-Jesu-Sozialist”, der sich für “Verbrecher” und “Kommunisten” einsetze.
Irgendwann war es vorbei mit dem Gespann Kohl-Blüm. Als der ehemalige Knappe Blüm 1999 bei der CDU-Spendenaffäre die Ansicht vertrat, dass Ex-Kanzler Kohl auch von seinem Amt als CDU-Ehrenvorsitzender zurücktreten müsse, war Schluss mit lustig. Nie wieder sprach Dr. Kohl ein Wort mit Dr. Blüm. Eine Trennung, die Kohl wie ein böser alter Mann mit eisiger Verachtung dokumentierte und Blüm mit eher leicht belustigter Verwunderung.
Sein Lebensabend als politischer Rentner war ja auch um so vieles lustiger. Während Kohl bis an sein Lebensende mit seiner politischen Nachfolge und seinen Söhnen haderte, folgte Blüm seinem Naturell und gab den moralischen Entertainer. Er war nicht nur Mitglied des TV-Rateteams von “Was bin ich?”, sondern schrieb auch Bücher mit den “Einsichten eines linken Konservativen”, stellte Kinderarbeit an den Prager, ging mit dem Schauspieler Peter Sodann auf Kabarettisten-Tournee, engagierte sich für Sklavenarbeiter in Katar,…
Der “Spiegel” hatte vor fünf Jahren den Rentner Norbert Blüm in seinem Haus in Bonn besucht und seinen Alltag beschrieben. Am liebsten saß der Ex-Minister mit seinem alten Telefonbuch am Schreibtisch und rief Freunde und ehemalige Kollegen an, nach dem Motto: “Nein, ich will nichts Bestimmtes. Ich sitz nur hier im Schaukelstuhl, Wärmflasche an den Füßen, hab mein Hörgerät angemacht und wollt mal durchrufen.”
Einen Gesprächspartner begrüßt er mit: “Ist da die Zentrale für sozialistische Gesinnungsprüfung und Gehirnerweichung? Hömma, ich hab dich laut gestellt, ich will dir nur sagen, der ‘Spiegel’ hört mit.” – Alles Arschlöcher”, antwortet Oskar Lafontaine. Nachdem alle Fragen zum Thema Linke, Rechte, Rente und Sigmar Gabriel abgehakt sind, verabschiedet sich Blüm: “Na, wie auch immer, grüß deine Alte, ich meine deine Neue. Du hast ja ‘ne Neue.” Lafontaine antwortet: “Du kannst ruhig Sahra sagen.”
Er ruft auch in München an. “Guten Tag, Blüm hier, könnte ich den Herrn Ministerpräsidenten Seehofer sprechen?” – “Tut mir leid, Herr Blüm, der Herr Ministerpräsident ist im Urlaub, kann ich was ausrichten?” – “Wenn er Lust hat, soll er mich mal anrufen.” – “Gerne. Haben Sie denn ein spezielles Thema?” – “Joa, das Wetter wär schön.”
Schließlich hat er einen guten Freund am Ohr, Bernhard Jagoda, den ehemaligen Chef der Bundesanstalt für Arbeit. Er lag nach einer Blutvergiftung ein Jahr im Koma, und Blüm spricht ins Telefon: “Was machst du denn für Sachen, Blutvergiftung, in unserem Alter, das macht man doch nicht.”
(ln/spot)