Die Nato steuert auf schärfere Vorgaben für die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten zu. Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet beim Gipfel in Litauen im Juli einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs, künftig mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben, wie er am Freitag in Brüssel sagte. Vorerst blockiert sind wegen türkischer Vorbehalte dagegen Pläne für eine effektivere Abschreckung gegen Russland.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach von einer "breiten Zustimmung", dass zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) künftig "die Untergrenze" bei den Verteidigungsausgaben der Nato-Länder sind. Der Pentagonchef machte zugleich Druck auf Länder wie Italien, Kanada oder Luxemburg, die mit den Vorgaben Probleme haben. Die Unterstützung der Ukraine im russischen Angriffskrieg mache höhere Ausgaben nötig, sagte Austin.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bekräftigte in Brüssel, dass Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel im kommenden Jahr erstmals erreichen "und natürlich auch langfristig halten" will. Bisher schafft dies noch nicht einmal ein Drittel der Nato-Mitgliedsländer.
Zugleich mahnte Pistorius Pragmatismus an. Das Ziel werde "für die meisten Volkswirtschaften nicht von jetzt auf gleich erreichbar sein", betonte er. Die Nato müsse sich "Schritt für Schritt daran herantasten".
Ab wann genau die neue Vorgabe greift, ist offen. Die Bündnisstaaten hatten 2014 bei einem Gipfel in Wales vereinbart, den Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) binnen eines Jahrzehnts "Richtung zwei Prozent" zu steigern.
Nicht einigen konnten sich die Nato-Staaten laut Stoltenberg auf eine rasche Beitrittseinladung für die Ukraine. Die USA und Deutschland sind gegen eine solche Zusage, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky ursprünglich für dem Gipfel in Litauen am 11. und 12. Juli erhofft hatte. Stattdessen soll ein neuer Nato-Ukraine-Rat eingerichtet werden, der in Vilnius mit Selenskyj zum ersten Mal tagen soll. Auch mit Russland hatte die Nato bis zum Angriff auf die Ukraine eine solche Gesprächsplattform.
Die Türkei verhinderte bei dem Verteidigungsministertreffen den erwarteten Beschluss für neue Regionalpläne, mit denen die Nato erstmals seit dem Kalten Krieg konkrete Vorgaben zur Abschreckung Russlands vor allem im östlichen Bündnisgebiet machen will. Stoltenberg zufolge sollen 300.000 Soldaten in erhöhter Bereitschaft sein.
Diplomaten zufolge will die Türkei unter anderem verhindern, dass Zypern in den Plänen unter diesem Namen auftaucht. Stattdessen pocht Ankara auf die Formulierung "zyprische Inseln". Der Süden der Mittelmeerinsel gehört als Republik Zypern der EU an. Im Norden liegt die 1983 ausgerufene Türkische Republik Nordzypern, die allerdings nur die Türkei anerkennt.
Auf den Nato-Fluren hieß es, der britische Verteidigungsminister Ben Wallace habe seinen neuen türkischen Kollegen Yasar Güler scharf zurechtgewiesen: Wallace sagte demnach, wenn sich Briten und Franzosen 1944 hätten auf den Namen für den Ärmelkanal einigen müssen, wäre es nie zur Landung in der Normandie gekommen.
Bei einer wichtigen Personalie gab es in Brüssel eine Vorentscheidung: Generalsekretär Stoltenberg bleibt der Nato voraussichtlich bis zum Jubiläumsgipfel in Washington im Juli 2024 erhalten, auf dem die Allianz ihr 75-jähriges Bestehen feiert. Norwegische Medien berichteten, Biden habe den 64-jährigen Norweger um eine Verlängerung seiner fast neunjährigen Amtszeit gebeten.
Am Donnerstag hatte sich bereits Pistorius für den erfahrenen Stoltenberg stark gemacht, der seit Herbst 2014 Generalsekretär ist. Den Europäern ist es bisher nicht gelungen, sich auf eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu einigen.
Im Gespräch waren unter anderem die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen und der britische Verteidigungsminister Wallace. Letzterer könnte seine Chancen mit der Zurechtweisung der Türkei allerdings verspielt haben.
lob/se