Hildesheim – Wie bestraft man eine Mutter, die über Jahre hinweg ihren geistig und körperlich behinderten Sohn rund um die Uhr pflegt und dann aus purer Verzweiflung umbringt? Diese Frage wurde am Mittwoch vom Landgericht Hildesheim beantwortet. Was droht der Mutter nach der Verzweiflungstat?
Der Vorsitzende Richter Rainer de Lippe erklärte in seiner Begründung: “Sie waren am Ende Ihrer Kräfte, deswegen ist es zu dieser Katastrophe gekommen.” Die 53-jährige Frau aus Sarstedt (Kreis Hildesheim) wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Sohn Jonas wurde mit dem seltenen Prader-Willi-Syndrom (PWS) geboren, einer Krankheit, die sich bei ihm durch Muskelschwäche, unwillkürliche Bewegungen, Zwangsrituale und Halluzinationen äußerte. Während der Vater für den Lebensunterhalt sorgte, lag die Hauptverantwortung für die Pflege und Betreuung von Jonas bei der Mutter. Es war ein jahrelanger Vollzeitjob, der ihr alles abverlangte. Laut Gericht konnte allein das Duschen ihres Sohnes bis zu zwei Stunden dauern. Die einzige Auszeit waren die fünf Minuten, in denen Jonas friedlich auf dem Spielplatz schaukelte. Schließlich war Ursula C. mit der Aufgabe überfordert. Sie litt unter Depressionen, schlief schlecht und entwickelte psychosomatische Beschwerden. Ein Arzt verschrieb ihr Beruhigungsmittel. Eine Unterbringung ihres Sohnes in einem Heim wäre frühestens nach dessen Volljährigkeit möglich gewesen. Im Januar 2021 wählte sie den Notruf, weil sie nicht mehr weiterwusste, nicht mehr konnte.
Am 16. März 2021 erreichte sie ihre Belastungsgrenze. Sie beschloss, sich und ihren Sohn umzubringen. Sie mischte eine Überdosis von Jonas’ Medikament “Quetiapin” (ein Neuroleptikum) in seinen Schoko-Pudding und nahm es auch selbst zusammen mit Apfelmus ein. “Sie hatten alle Vorkehrungen getroffen, damit man sie nicht findet”, erklärte der Richter. Die 53-Jährige war davon überzeugt, dass ihr Sohn es ohne sie nicht schaffen würde. Ihr Ehemann fand jedoch beide. Ursula C. überlebte die Überdosis knapp, ihr Sohn jedoch nicht. Nach der Tat legte sie ein umfassendes Geständnis ab. “Ich habe meinen Sohn über alles geliebt”, beteuerte sie im Prozess. Die Kammer konnte ihr das jedoch nicht abnehmen. Dennoch waren die Richter der Ansicht, dass sie zu weit ging, als sie beschloss, ihren Sohn mit in den Tod zu nehmen. De Lippe sagte: “Das Leben von Jonas war genauso wertvoll wie das eines 18-jährigen Abiturienten.” Bei der Strafzumessung hat das Gericht jedoch die krankheitsbedingte, verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten berücksichtigt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine dreijährige Haftstrafe wegen Mordes gefordert, während die Verteidigung eine Bewährungsstrafe wegen Totschlags vorschlug. Zum Abschluss wandte sich der Richter direkt an Ursula C.: “Bis dahin waren Sie eine gute Mutter. Das, was geschehen ist, macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen.” Ihr Ehemann steht weiterhin zu ihr. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.