Psychologin gibt Ratschläge
Nach dem Fest der Liebe trennen sich angeblich besonders viele Paare. “Weihnachten ist für sehr viele Menschen ein emotionaler Marathon, der sich auch auf die Paarbeziehung auswirkt”, erklärt Ulrike Scheuermann, Diplom-Psychologin und Autorin von “Self Care”: “Es lauern viele Fallstricke, die ein friedliches Beisammensein verhindern. Oft liegen die Nerven regelrecht blank. Weihnachten ist eine brenzlige Zeit mit extrem hohen Erwartungen an alles und eben auch an die Beziehungen zu Menschen, die uns am nächsten stehen: Partner und Partnerin, Freund und Freundin, Eltern, Kinder.”
Die Expertin nennt im Interview mit spot on news mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen. Erstens: “Zu hohe Erwartungen: Alles, was über Monate oder sogar Jahre in der Alltagshektik untergegangen ist, soll plötzlich stattfinden: innige Gespräche, harmonische Nähe, romantische Stimmung.”
Zweitens: “Weihnachten ‘muss’ das Fest der Liebe sein. Doch wie so oft im Leben geht es genau dann schief, wenn man etwas unbedingt will und darüber die Augen vor der Realität verschließt. Nähe entsteht nicht auf Knopfdruck, sondern mit Zeit, Ruhe, Sich-aufeinander-Einstimmen.”
Drittens: “Für viele ist Heiligabend das Finale nach wochenlangem Vorweihnachtsstress. So ist der Stresspegel extrem hoch und die Erschöpfung groß. Vor allem bei Frauen. Während und vor allem nach Weihnachten gibt es dann viele Vorwürfe”, so Scheuermann:
“‘Warum hast du nicht mehr mitgeholfen? Du legst immer die Beine hoch und ich rackere mich ab.’ Die Vorwürfe sind verständlich, aber selten produktiv. Wie wäre es, sich vom Mann – oder gelegentlich auch von der Frau – in Sachen Laissez-faire etwas abzugucken? Oft kann gerade derjenige, der weniger tut, tatsächlich ein Lernvorbild sein, um überhöhte Ansprüche abzubauen. ‘Okay, ich überlasse dir dieses Mal die Planung für die Einkäufe. Lass uns zusammen kochen, das könnte ja mal eine nette Aktion sein. Aber ich würde lieber die Salate und das Dessert machen, mich stresst der Hauptgang jedes Mal.'”
Ulrike Scheuermann gibt diese Tipps: “Drastisch – denn das ist wirklich wichtig – die eigenen Ansprüche herunterschrauben und erkennen: ‘Was man vorher das ganze Jahr hindurch nicht gemacht hat, kann man nicht in ein paar Feierstunden nachholen: Innige Gespräche und harmonische Nähe kommen nicht aus dem Nichts, wenn man sich sonst in der Alltagshektik nur die Klinke in die Hand gegeben hat. Nähe entsteht nicht auf Knopfdruck, sondern mit Zeit, Ruhe, Sich-aufeinander-Einstimmen und Spüren, was gerade ‘dran’ ist. Romantische Weihnachtsstimmung beim ‘Fest der Liebe’ entsteht gerade dann nicht, wenn sie sein muss.”
“Erst wenn man von diesem ‘Muss’ ablässt, unrealistische Erwartungen aufgibt und stattdessen die Realität sieht, kann etwas Authentisches entstehen. Das ist dann nicht immer die erwartete feierliche Festtagsstimmung, aber dafür ehrlich und echt. Vielleicht ist die Partnerin einfach nur erschöpft und würde am liebsten still in der Sofaecke sitzen, dann ist eben keine Zeit für innige Gespräche. Oder die Distanz der letzten Wochen ist noch da, dann redet man halt erstmal über die Arbeit anstatt über die gegenseitige Liebe.”
“Familienbesuche bei der Herkunftsfamilie zeitlich einschränken, um sich nicht zu sehr von der Familiendynamik anstecken zu lassen: ein paar Stunden reichen. Bei reinen Pflichtbesuchen, zu denen man überhaupt keine Lust hat, kann man abwägen, ob es mehr Stress wäre, ganz abzusagen oder mit einem Kompromiss zu leben.”
“Darüber reden und Verantwortung teilen: ‘Wir kriegen uns immer wieder in die Haare, das will ich nicht nochmal – was können wir alle dafür tun, damit es diesmal anders wird?'”
“Sich fragen: ‘Was wünsche und erwarte ich mir wirklich von Weihnachten? Was ist mir wichtig? Warum? Was will ich nicht? Wie war es in den letzten Jahren? Was lief in der Vergangenheit jedes Mal wieder schief? Was sollte und kann ich tun, um Weihnachten diesmal aktiv so zu gestalten, dass es gut für mich und uns ist? Was sollte ich lassen?'”
“Mehr gemeinsam – weniger einzeln – die Verantwortung für ein friedliches Weihnachtsfest übernehmen: Nicht eine Person kocht und organisiert alles, sorgt für gute Stimmung und das Wohlergehen der anderen, sondern alle gemeinsam. Man kann zum Beispiel mithilfe des kostenlosen Dienstes von Doodle.com allen Beteiligten einen Link mit einer Optionenabfrage schicken, die man vorher eingerichtet hat. Jeder trägt sich für Aufgaben ein. Alle sehen, wer welche Aufgabe übernimmt. Automatisch fühlt sich jeder mitverantwortlich.”
“Auch an Weihnachten können wir uns – ohne dass auch das wieder zum Leistungsstress wird – mehr vom dänischen Lebensgefühl ‘Hygge’ abgucken: Das Wort lässt sich nicht direkt übersetzen, es steht für eine gemütliche, heimelige Stimmung. Hygge ist ein gemeinsam gestaltetes Werk des ausgeglichenen und entspannten Beisammenseins. Ein Schlüssel zu Hygge ist das Gemeinschaftsgefühl: Wenn wir innerlich mit anderen verbunden sind, fühlen wir uns wohl, sicher, friedlich und zufrieden. Alles Trennende wie Konkurrenz, Perfektion und Wichtigtun fällt weg. Man hört sich gegenseitig zu, anstatt zu diskutieren. Unterschiedliche Sichtweisen dürfen nebeneinander stehen bleiben. Akzeptieren, Verstehen und Liebe sind wichtiger. Ebenso stellt sich niemand über den anderen und bewertet. Alle zeigen sich, wie sie wirklich sind. Niemand muss sich selbst oder den anderen etwas beweisen. So kann man das Zusammensein wirklich genießen, im Moment sein und ohne hohen Anspruch mit den anderen zusammen sein.”
Das Fazit der Expertin: “Weihnachten wird nicht von alleine schön, sondern wir müssen es aktiv gestalten und gemeinsam Verantwortung übernehmen. Dann besteht die Chance auf ein friedliches Fest.”
Die “Self Care”-Autorin ist sich sicher: “Ja, Frauen sind anfällig für Überforderung und kräftemäßige Verausgabung, die das Gegenteil von Selbstfürsorge sind. Denn sie neigen zu Perfektionismus, wo Männer – zumindest im häuslichen Bereich – leichter mal alle Fünfe gerade sein lassen können. Immer noch gehören eben das Zuhause, die Beziehungen und das Essen traditionell in den Wirkungsbereich der Frau. Interessant ist es, die Hintergründe für diesen Perfektionismus zu beleuchten. Dadurch werden die psychologischen Mechanismen bewusster, und das Erkennen der Dynamik ist immer der erste wichtige Schritt, um in Zukunft etwas anders zu gestalten.”
“Hintergrund für Perfektionismus ist generell ein niedriger oder instabiler Selbstwert. Frauen schätzen ihren Wert oft eher niedrig ein und wollen diesen Selbstwertmangel dann durch Hochleistungen ausgleichen – an Weihnachten soll es eben das perfekte Fest sein”, so Scheuermann: “Der Perfektionismus wird dann zusätzlich durch ehrgeizige Vorstellungen genährt, die durch Medienbilder und vermeintlich perfekte Feiern bei anderen entstehen. Man entwickelt überzogene Bilder, in denen das Weihnachtsessen, die Geschenke, die Stimmung und der Ablauf des Abends einmalig und großartig gelingen sollten.”
(hub/spot)