Die Einigung von Union und SPD auf eine Reform des Wahlrechts stößt bei der Opposition einhellig auf Widerstand. Kritisiert wurden am Mittwoch eine Verzerrung des Wahlergebnisses zugunsten der Union, weil künftig Überhangmandate nicht mehr vollständig ausgeglichen werden sollen, sowie eine geringe Dämpfungswirkung der Beschlüsse auf die Mandatszahl. Koalitionspolitiker lobten dagegen den ausgehandelten Kompromiss.
Der Koalitionsbeschluss vom Dienstagabend sieht vor, dass ab 2021 drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien ausgeglichen werden sollen. Davon profitiert nach dem jetzigen Stand der Umfragen die Union. Zudem soll eine Verrechnung von Direktmandaten mit Listenmandaten derselben Partei auch in anderen Bundesländern erleichtert werden. Ab 2025 soll zudem die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 sinken.
"Das Zweitstimmenergebnis wird verzerrt", kritisierte Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann mit Blick auf die Überhangmandate. Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner warf Union und SPD "Taktieren rein zugunsten der eigenen Machtsicherung" vor. Von Schaden für "die Glaubwürdigkeit demokratischer Politik", sprach Parteichefin Annalena Baerbock im Redaktionsnetzwerk Deutschland.
"Die Gefahr eines XXL-Bundestages ist nicht gebannt" und "Sieger ist die Union, die einen Mandatsbonus von drei unausgeglichenen Überhangmandaten dafür geschenkt bekommt", erklärte FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Parteichef Christian Lindner nannte das Vorgehen der Koalition "inakzeptabel" und "Bruch mit allen guten Sitten".
Von einer "Wählerverarschung" sprach im Sender n-tv Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch. Linken-Parteivize Martina Renner kritisierte, dass von der Koalition beim Wahlrecht "die demokratische Opposition ignoriert und übergangen" werde.
Der AfD-Wahlrechtsexperte Albrecht Glaser bezeichnete den Beschluss als "widersinnig". Er verwies auf den Vorschlag seiner Partei, der eine Kappung der Direktmandate entsprechend dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei vorsieht.
Ziel der Reform ist es, ein weiteres Aufblähen des Bundestages durch Überhang- und Ausgleichsmandate zu vermeiden. Allerdings sagte der Stuttgarter Mathematiker Christian Hesse dem Portal "Zeit Online", bei der Wahl 2017 hätte eine Anwendung der Koalitionsbeschlüsse die Mandatszahl nur um 19 verringert. Aus der Koalition wurden ähnliche Größenordnungen auch für 2021 genannt. 2025 sei dann eine Verringerung im höheren zweistelligen Bereich zu erwarten, hieß es.
Für weitere Reformschritte will die Koalition eine Kommission einsetzen, die bis Mitte 2023 Empfehlungen vorlegen soll. Dabei soll es auch um eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre sowie Maßnahmen für mehr Geschlechterparität im Bundestag gehen, außerdem um eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Die Überhangmandate sowie die Wahlkreiszahl sollen dagegen nicht mehr Gegenstand der Beratungen sein, hieß es aus der Union.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer lobte die Beschlüsse des Koalitionsausschusses im ZDF als "beachtenswertes Ergebnis". SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprach dort sogar von einem "großen Erfolg".
Um die Reform war in der Koalition lange gerungen worden. Die Oppositionsfraktionen wollen die Beschlüsse im Bundestag nicht mittragen. Union und SPD können sie jedoch auch im Alleingang durchsetzen.
Die Regelgröße des Bundestags liegt bei 598 Abgeordneten, im derzeitigen Bundestag sind es jedoch 709. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten in den Bundestag bringt, als es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Dafür bekommen die anderen Parteien Ausgleichsmandate, was nun eingeschränkt werden soll.
by Von Peter WÜTHERICH