In Moskau hat der Prozess gegen den Ko-Vorsitzenden der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten russischen Menschenrechtsorganisation Memorial begonnen. "Ich bekenne mich nicht schuldig (...) ich werde wegen meiner Meinung angeklagt", sagte der 70-jährige Oleg Orlow am Donnerstag vor einem Gericht im Moskauer Stadtteil Golowinski. Truppen in die Ukraine zu entsenden untergrabe den Frieden und die internationale Sicherheit und widerspreche den Interessen russischer Bürger, fügte er hinzu.
Orlow wird vorgeworfen, die russische Armee "diskreditiert" zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft. Der 70-Jährige hatte im Alleingang gegen die russische Invasion in der Ukraine demonstriert und auf der französischen Internetseite Mediapart einen Russland-kritischen Gastbeitrag mit dem Titel "Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen" veröffentlicht.
Mit mehreren Anfragen versuchte die Verteidigung das Verfahren zu stoppen, was vom Gericht allerdings abgewiesen wurde. Die nächste Anhörung wurde für den 3. Juli terminiert. Beim Verlassen des Gerichtssaals wurde der 70-Jährige von einer applaudierenden Menge empfangen, die allerdings schnell von Polizisten zerstreut wurde.
Vor Beginn des Prozess hatte Orlow als Zeichen des Widerstands seine Faust in die Höhe gereckt und Journalisten ein Buch des Autoren Alexander Baunow über den Zerfall europäischer Diktaturen gezeigt. Begleitet wurde der Angeklagte von dem russischen Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, der zu seinem Verteidigungsteam gehört.
Er mache sich keine Illusionen über den Ausgang des Prozesses, sagte Orlow der Nachrichtenagentur AFP am Vorabend der Verhandlungen. "Ich werde verurteilt werden, daran hat niemand einen Zweifel." Er bereue allerdings nichts.
Bereits Anfang März war gegen Mitarbeiter von Memorial ein Verfahren wegen "Rehabilitierung des Nationalsozialismus" eröffnet worden. Die 1989 gegründete Organisation dokumentierte mehr als 30 Jahre lang die Verbrechen der ehemaligen Sowjetunion in der Zeit des Kommunismus. Ende 2021 ordnete ein russisches Gericht die Auflösung der Organisation an. Im vergangenen Oktober wurde Memorial mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
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