Lange Zeit galt die Stadt Tübingen als Vorzeigeprojekt. Statt Lockdown hatte die Stadt immer wieder auf eine ausgiebige Teststrategie zurückgegriffen und war damit bisher sehr gut durch die Corona-Krise gekommen. Doch nun steigen die Infektionszahlen auch dort an. Außerdem spricht der Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) nun auch über die Schattenseiten, Denn das Corona-Modellprojekt wird von manchen Leuten auch kritisiert. Sogar Morddrohungen hat der Grüne Oberbürgermeister deswegen bereits erhalten.
Seitdem die Corona-Pandemie in Deutschland begonnen hat, konnte Tübingen mit flächendeckenden Test der Bevölkerung die Situation in der Stadt kontrillieren ohne auf harte Lockdowns zurückzugreifen. Zu keinem Zeitpunkt der Pandemie waren die Zahlen dort ausser Kontrolle geraten. Doch auf einmal sieht sich das erfolgreiche Projekt einem großen Druck ausgesetzt. “Das Modellprojekt steht seit heute sehr unter Druck”, erklärte Palmer im Rahmen einer Online-Gesprächsrunde mit Wissenschaftlern. Denn offenbar äusserten viele Skeptiker den Wunsch, dass dieses Modellprojekt doch noch scheitern soll. Insgesamt will der polemische Oberbürgermeister eine dreistellige Anzahl an Morddrohungen erhalten haben. In allen diesen Fällen sind Verfahren bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Nun hat wohl ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Projekt einen Bärendienst erwiesen. Denn durch ihre Aussagen in einer Talkshow am Sonntag hatte Merkel auch das Tübinger Modell in Frage gestellt. Merkel hatte angedeutet, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für Experimente sei und das der Bund notfalls Verschärfungen der Maßnahmen veranlassen könnte, falls die Bundesländer nicht mitziehen. Zuletzt hatten mehrere Bundesländer angekündigt eigene Modellprojekte starten zu wollen.
Palmer bestätigte bei dieser Gelegenheit, dass die Fallzahlen zur Zeit auch in seiner Stadt wieder ansteigen. Allerdings sei der Anstieg gleich groß im Vergleich zu Gebieten bei denen mit Schließungen gearbeitet werde, um die Fallzahlen zu kontrollieren. Eine genaue Zahl dürfe er nicht nennen, hatte Palmer in der Gesprächsrunde verlauten lassen. Gegenüber den “Stuttgarter Nachrichten” und der “Stuttgarter Zeitung” (Dienstag) soll Palmer die Sieben-Tage-Inzidenz der Stadt Tübingen am Sonntag jedoch mit 66,7 angegeben haben. Dies entspräche einem deutlichen Anstieg in wenigen Tagen. Noch am letzten Donnerstag hatte der Inzidenzwert bei 35 gelegen. Er hat sich nun also in kurzer Zeit fast verdoppelt. Trotzdem sieht Palmer noch immer keinen Grund zur Unruhe. Denn der grüne Oberbürgermeister ist sich sicher, dass dieser Anstieg der Zahlen eher nicht aufs Einkaufen oder den Theaterbesuch zurückgehe. Ihm bereiten mehr diejenigen Personen Sorgen, die abends in der Stadt durch die Kneipen zögen, um sich zu amüsieren. In dieser Hinsicht könne man jedoch zu jeder Zeit auch die Reißleine ziehen. “Das ist ein Experiment mit offenem Ausgang”, betonte Palmer nochmals.