Ein botanisches Kanzlergespräch in Erfurt
Donnerstagabend lädt er zum "Kanzlergespräch" in Erfurt, Hauptstadt des Landes, in dem die Linke regiert und AfD-Rechtsaußen Björn Höcke an die Macht will.
Ein unerwarteter Gast
18.30 Uhr, Erfurt, Egapark, eine botanische Perle aus DDR-Zeiten. Auf der Parkbühne hinter dem Kakteenhaus: knapp 160 Bürger. Fast alle kommen aus Thüringen. Mitten unter ihnen Benjamin Graber (42), der eigentlich Angela Merkel sehen wollte und sich dafür schon vor Jahren bewarb. Für Merkels damaligen Auftritt in seiner Heimatstadt bekam der Erfurter Autor und Flüchtlingshelfer kein Ticket. "Wohl als Trostpreis" habe er nun vom Kanzleramt die Einladung bekommen. "Ich habe mich gefreut", sagt Graber.
Von Merkel zu Scholz
Schon seltsam: Er wollte Merkel sehen und bekam Scholz... Benjamin Graber (42) wollte eigentlich Merkel sehen - stattdessen gab es Scholz
Eine lebhafte Diskussion
Graber muss jetzt erst mal die Warm-up-Runde über sich ergehen lassen: MDR-Star Stephanie Müller-Spirra (40) begrüßt die Runde bei strahlender Sonne, stellt die Mikrofonhalter vor ("die Sabrina, die Annika, die Peggy und der Paul"), testet dann, ob die Bürger sich auch laut und verständlich genug melden. Gegen 18 Uhr ist letzte Pinkelpause, die Schlange vor dem nahen Klohäuschen wird lang und länger. Aber macht nichts, der Kanzler ist noch weit... Dann geht's los. 18.30 Uhr. Auftritt Scholz! Es ist das neunte Scholz-Bad in der Menge – eigentlich nichts für den zurückhaltenden Hanseaten, der öffentliche Konfrontationen scheut. Doch Scholz hält sich wacker! Und die Thüringer sind in ihren Fragen seltsam nett zu ihm. Mal geht's um die Wirtschaft in Deutschland (Scholz: "Sollten wir nicht schlechtreden"), mal um neue Atomkraftwerke ("Würden 15-20 Milliarden pro Stück kosten") und die Windräder ("Sind langfristig billiger und stehen schneller zur Verfügung"). Die Runde nimmt's hin. Applaus gibt's eigentlich nur für Fragen, kaum für die Antworten des Kanzlers. Besonders laut beklatscht wird eine Erfurterin, die wissen will, warum Deutschland "Hunderte Millionen" Entwicklungshilfe an ferne Länder zahlt, während es in Deutschland und seinen Kommunen überall an Geld fehle. DAS sei der Grund, warum so viele Bürger AfD wählen. Scholz bemüht sich, besonnen zu antworten. Er verweist auf den Hunger und die Not überall auf der Erde: "Da können wir uns nicht drücken. Das ist unsere Verantwortung in der Welt. Das werden wir auch weiter machen – mit Augenmaß."
Auf dem Prüfstand
Eine Regierungsbeteiligung ist für die AfD in weiter Ferne. Höcke interessiert das nicht. Ähnlich gelassen bleibt der Kanzler, als eine Fragestellerin behauptet: Gesundheitsminister Lauterbach sei von der Pharmaindustrie gekauft. Und: Außenministerin Baerbock habe Russland "den Krieg erklärt". Da wird selbst der sanfte Scholz deutlich: Lauterbach arbeitet NICHT für die Pharmaindustrie! Und: NIEMAND habe Russland den Krieg erklärt. Putin sei in der Ukraine einmarschiert, riskiere damit einen "Brand in ganz Europa". Man spürt: Scholz kann auch kraftvoll, fast zornig.
Ein leidenschaftlicher Verteidiger der EU
Die Frage des Erfurter Rentners Klaus-Dieter Otto (74, "Was tun sie gegen Demokratiefeinde?") nimmt der Kanzler Volley mit Ziel auf die AfD: "Wir drücken uns da nicht und halten dagegen", verspricht Scholz – und arbeitet sich Punkt für Punkt am Europaprogramm der Rechtsaußen-Partei entlang. Wohlstand, Sicherheit, die Wiedervereinigung "haben wir Deutschen der Europäischen Union zu verdanken!", donnert er in die Runde. Logik: Wenn die AfD die EU verlassen wolle, dann koste das deutsche Arbeitsplätze. Zur Vorsicht schickt er noch eine Salve von internationalen High-Tech-Firmen hinterher, die trotz der angeblichen Schwäche der deutschen Wirtschaft Milliarden in unser Land pumpten – unter anderem auch nach Thüringen.
Eine ruhige Diskussion
So plätschert der Abend vor sich hin. Das Thema Flüchtlinge oder Asyl spricht im AfD-Rekord-Land (32 Prozent) erstaunlicherweise niemand an. Immerhin: Scholz gesteht, wenn er zu Fragen nichts zu sagen hat ("Schreiben Sie mir, ich kümmere mich"). Wenn's heikel wird (Bildung, Wohnungsbau, Pflege, Rente) verweist er auffallend häufig an die Zuständigkeiten ("Sache der Länder") oder ans Bundesverfassungsgericht (Rentensteuer). "Scholz war gut vorbereitet", gesteht Fragesteller Otto. Seine Frau Carsta (68) wundert sich: "Er hatte zwar gerade zwei Wochen Urlaub, aber woher nimmt der bloß die Kraft für so einen Abend nach all der Arbeit."
Ein Selfie als Erinnerung
Am Ende kommt einer nicht zu Wort: "Merkel-Fan" Benjamin Graber, der wissen wollte, warum die Bundesregierung nicht mehr für die Mittelmeer-Flüchtlinge tut. "Aber macht nichts", sagt der Erfurter: "Ich versuche es weiter, bei Scholz und bei Merkel, auch wenn die jetzt nicht mehr regiert." Wenigstens ein Selfie mit dem Bundeskanzler hat er am Ende noch machen können...