Kanada hat in vorgezogenen Neuwahlen ein neues Parlament gewählt. Bei der Abstimmung, die am Montagmorgen mit Öffnung der Wahllokale in der östlichsten Provinz Neufundland begann, muss Premierminister Justin Trudeau um seine Wiederwahl fürchten. Der Liberale lag zuletzt mit dem Konservativen Erin O'Toole gleichauf. Mit Ergebnissen wurde frühestens am Abend (Ortszeit), womöglich aber auch erst am Dienstag gerechnet.
Nachdem Trudeau bei seinem ersten Wahlsieg 2015 in Kanada noch als Erneuerer gefeiert worden war, hat der 49-Jährige mittlerweile nicht zuletzt wegen einer Reihe politischer Affären seiner Regierung deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Seit seiner Wiederwahl 2019 führt er eine Minderheitsregierung. Mitte August rief Trudeau in der Hoffnung auf eine stabile Mehrheit und weitere vier Jahre als Regierungschef vorgezogene Neuwahlen aus.
Dank großzügiger Hilfszahlungen, einer schnellen und erfolgreichen Impfkampagne und eines allgemein positiv bewerteten Agierens der Behörden in der Corona-Pandemie hatten sich die Zustimmungswerte zuvor gebessert. Ein plötzlicher Anstieg der Corona-Fälle wegen der Delta-Variante und nachdem die meisten Einschränkungen aufgehoben worden waren, wirkte sich allerdings wieder negativ aus.
Am Ende des nur 36 Tage langen Wahlkampfes lagen Liberale und Konservative - die beiden großen politischen Parteien, die Kanada seit Staatsgründung 1867 regieren - schließlich mit jeweils rund 31 Prozent gleich auf.
Vier kleinere Parteien haben demnach ebenfalls Chancen auf einen Einzug ins Parlament. Schätzungsweise 27 Millionen Kanadier sind wahlberechtigt. Für eine stabile Mehrheit brauchen Trudeaus Liberale 170 der 338 Sitze im Parlament.
Im Endspurt des Wahlkampfes warnte Trudeau, ein Wahlsieg der Konservativen würde einen Rückschritt für das Land insbesondere bei der Klimapolitik bedeuten. O'Toole versprach den Kanadiern eine Politik der Erneuerung. Sein Wahlkampf war stark auf das politische Zentrum ausgerichtet.
Der Wahlkampf habe insgesamt wenig polarisiert, kommentierte Max Cameron, Professor an der Universität von British Columbia. "Es gibt tatsächlich eine Menge Konsens in der Mitte."
Sollten weder Liberale noch Konservative die nötige Mehrheit erreichen, wären sie auf die Zusammenarbeit mit kleineren Parteien wie der sozialdemokratischen NDP oder dem Bloc Québecois angewiesen, den Unabhängigkeitsbefürwortern der französischsprachigen Provinz Kanadas. Die kanadischen Grünen hingegen dürften nur mit Mühe überhaupt ins Parlament einziehen.
Die letzten Wahllokale in der westlichen Provinz British Columbia schließen um 19.00 Uhr Ortszeit (02.00 Uhr morgens MESZ). Wegen der Pandemie haben sich mit 1,2 Millionen Stimmberechtigten ungewöhnlich viele Kanadier für die Briefwahl entschieden. Dies und der erwartete knappe Ausgang der Wahl könnten dazu führen, dass es am Abend noch keine Ergebnisse gibt.
by Von Geneviève NORMAND