Im südlichen Teil der Ukraine stellt sich Putins Invasionsarmee der Gegenoffensive der Kiewer Regierung entgegen. Satellitenbilder belegen das Ausmaß umfangreicher Stellungsbauten im Hinterland der Front. Insbesondere die Kleinstadt Tokmak wirkt wie eine russische Festung.
Der ukrainische Gegenangriff zur Befreiung der besetzten Gebiete im Süden und Osten des Landes ist im Gange, allerdings konnten die ukrainischen Streitkräfte bisher nur an einigen wenigen Stellen größere Geländegewinne erzielen. Ein entscheidender Durchbruch durch die russischen Linien blieb bisher aus. Die ukrainischen Truppen kämpfen derzeit vor den Verteidigungsanlagen der Russen. Entlang der Frontlinie haben die russischen Streitkräfte aufwendige Stellungsbauten errichtet. In den letzten Monaten entstanden insbesondere in der Region Saporischschja tiefe Panzergräben und Betonhindernisse in Form von “Drachenzähnen”. Der US-Analyst Brady Africk hat diese Bemühungen in einer eigenen Karte dokumentiert. Satellitenaufnahmen zeigen zudem begleitende Grabensysteme mit Geschützständen, Artilleriepositionen und weiteren Hindernissen.
Aktuelle Satellitenfotos aus der Region Saporischschja verdeutlichen das Ausmaß der russischen Stellungen. Insbesonderen rund um die Kleinstadt Tokmak ist ein umfangreiches Netzwerk von Gräben und Betonhindernissen entstanden. Die Anlagen wirken wie eine durchgehende Verteidigungsstellung. Die Ausmaße der Anlage sind selbst auf mittleren Auflösungen der Satellitenbilder gut erkennbar. In einigem Abstand zu den Sperranlagen sind zudem die typischen gezackten Muster von Schützengräben und vorbereiteten Feuerstellungen zu erkennen. Die Stellungen folgen teilweise den natürlichen Geländemerkmale. An anderen Stellen decken sie Flussübergänge ab, verlaufen entlang von Höhenrücken oder versperren Fernstraßen. Mit ausreichender Besetzung könnten die Gräben dazu dienen, einen schnellen Vorstoß der ukrainischen Truppen zu bremsen. Bisher lenken die Bautätigkeiten jedoch viel Aufmerksamkeit auf die russischen Stellungen. Handelt es sich hier um die Hauptverteidigungslinien der Russen?
In den letzten Wochen wurden auch weitere russische Vorkehrungen in der Region beobachtet. Zum Beispiel entstand Ende Juni ein improvisierter Damm im Südosten des Stadtgebiets von Tokmak, der die angrenzenden Ackerflächen überflutete. Dies könnte darauf abzielen, ein weiteres Hindernis im Umfeld der Stadt zu schaffen.
Tokmak spielt offensichtlich eine besondere Rolle in den Überlegungen der russischen Besatzer. Die Stadt hat sowohl für Russland als auch für die Ukraine strategische Bedeutung. Aus russischer Sicht bietet Tokmak sich als Verkehrs- und Logistikstützpunkt im Hinterland der Kampfzone an. Von ukrainischer Seite aus gesehen ist Tokmak die erste größere Ortschaft auf dem Weg zur Küste. Ein Durchbruch der ukrainischen Truppen bei Tokmak könnte einen Keil in die russischen Verbände treiben. Die russische Landverbindung zur Krim ist nirgends schmaler als im Frontabschnitt bei Tokmak. Von dort bis zur Hafenstadt Berdjansk sind es nur noch gut 100 Kilometer über weitgehend flaches Gelände. Abgesehen von Tokmak und Melitopol gibt es in diesem Korridor keine größeren Ortschaften mehr zwischen den ukrainischen Befreiern und dem Asowschen Meer.
Die russischen Stellungsbauten bei Tokmak haben jedoch einen offensichtlichen Nachteil: Sie erfordern eine große Anzahl kampfkräftiger Soldaten, sonst sind sie beinahe nutzlos. Die üblicherweise parallel zu den Sperranlagen angelegten Minenfelder schränken zudem die Bewegungsfreiheit der russischen Truppen ein. Es ist unklar, über welche personellen Reserven die russischen Generäle in der Region noch verfügen. Die Versorgungslage ist schwierig, da die russischen Nachschubrouten seit Wochen gezielt unter Beschuss stehen. Die Abschnitte bei Tokmak wirken bisher noch unbesetzt, die Geschützstellungen sind größtenteils leer. Die militärische Bedeutung der russischen Stellungen hinter der Front ist fraglich. Kann die russische Armee tatsächlich davon ausgehen, die ukrainischen Truppen in sichtbaren Stellungen dauerhaft aufhalten zu können? Immerhin verfügen die ukrainischen Streitkräfte über westliche Präzisionsmunition, Pionierpanzer, Minenräumer und anderes schweres Militärgerät. Sicher ist jedoch, dass Putins “militärische Spezialoperation” im zweiten Jahr der Kampfhandlungen bereits massiv unter Druck geraten ist. Das Potenzial der ukrainischen Gegenoffensive ist offenbar so groß, dass mit weiteren Durchbrüchen zu rechnen ist. Und dass, obwohl die Ukraine zahlreiche Einheiten noch gar nicht auf’s Schñachtfeld geschickt hat.