Angesichts der festgefahrenen Verhandlungen über ein Handelsabkommen nach dem Brexit reist der britische Premierminister Boris Johnson nun persönlich nach Brüssel. Wie ein Sprecher in London am Montagabend mitteilte, wird er dort "in den nächsten Tagen" EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treffen. Beide hatten zuvor erklärt, die Bedingungen für ein Abkommen seien weiter nicht gegeben.
Johnson und von der Leyen hatten am Montagabend erneut telefoniert, um über die Zukunft der Gespräche zu beraten. Laut einer gemeinsamen Erklärung baten sie ihre Chefunterhändler, "einen Überblick über die verbleibenden Differenzen zu erstellen, die in den kommenden Tagen persönlich besprochen werden sollen."
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende bleibt es aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Diese Übergangsphase wollten beide Seiten eigentlich nutzen, um ein Handelsabkommen auszuhandeln. Die Gespräche kommen aber seit Monaten kaum voran. Inzwischen ist die Zeit für eine rechtzeitige Ratifizierung eines möglichen Abkommens bis zum 1. Januar schon äußerst knapp.
EU-Verhandlungsführer Michel Barnier sah am Montag noch immer große Differenzen in drei zentralen Bereichen. Dabei geht es um faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle eines künftigen Abkommens und die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern. Einigen Ländern wie Frankreich ist das Thema Fischerei besonders wichtig. Paris hatte deshalb sogar mit einem Veto gegen ein mögliches Abkommen gedroht.
Wann Johnson kommt, blieb vorerst offen. In Brüssel hieß es, es werde voraussichtlich nicht am Dienstag sein. Gehandelt wurde der Mittwoch, weil am Donnerstag der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs beginnt. Direkte Verhandlungen der 27 Mitgliedsregierungen mit der britischen Seite hatte die EU aber immer ausgeschlossen.
Die französische EU-Abgeordnete Nathalie Loiseau sagte nach der Information des Europaparlaments durch Barnier, der europäische Verhandlungsführer glaube, dass spätestens am Mittwoch eine Entscheidung getroffen werden müsse. Die Liberale betonte, schon jetzt könne das EU-Parlament die Ratifizierung des voraussichtlich über 700 Seiten starken Abkommens bestenfalls noch "in den allerletzten Dezembertagen" abschließen.
Ein Sprecher Johnsons sagte, seine Regierung sei "bereit, so lange zu verhandeln, wie die Zeit reicht, wenn wir denken, ein Abkommen ist noch möglich". Mit Blick auf eine Verlängerung der Gespräche ins nächste Jahr hinein betonte er aber: "Ich kann das ausschließen."
Kompromissbereit zeigte sich die britische Regierung derweil mit Blick auf ihr von der EU scharf kritisiertes Binnenmarktgesetz. Sie sei unter bestimmten Bedingungen bereit, Klauseln aus dem Gesetz zu streichen, die Teile des EU-Austrittsvertrags außer Kraft setzen könnten, teilte die Regierung mit. Die Ankündigung Londons, das Gesetz zu überarbeiten, könnte den Unterhändlern in Brüssel nun wichtige zusätzliche Zeit geben.
Ohne Einigung würden im beiderseitigen Handel zum Jahreswechsel Zölle erhoben. Wirtschaftsverbände rechnen dann nicht nur mit massiven Staus an den Grenzen im Lieferverkehr, sondern auch mit Milliarden an Mehrkosten und Einnahmeausfällen.
by Von Martin TRAUTH