Nach seinen bislang heftigsten Angriffen im Gazastreifen hat Israel eine neue Phase des Krieges ausgerufen. Es habe "die zweite Etappe des Krieges" gegen die radikalislamische Hamas begonnen, sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu am Wochenende. Die israelische Armee appellierte erneut nachdrücklich an die Einwohner von Gaza-Stadt, in den Süden zu fliehen. UN-Generalsekretär António Guterres kritisierte die "beispiellose Eskalation" der Luftangriffe in dem Palästinensergebiet.
Der Kampf Israels gegen die militante Palästinenserorganisation Hamas im Gazastreifen werde "lang und schwierig", sagte Ministerpräsident Netanjahu am Samstagabend bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Verteidigungsminister Joav Gallant und Oppositionsführer Benny Gantz, einem weiteren Mitglied der Notstandsregierung. Ziele der "zweiten Etappe des Krieges" seien die für Israel "existenzielle" Zerstörung der militärischen Kapazitäten der Hamas und ihrer Führung sowie die Heimkehr der Geiseln.
Am Sonntag teilte die Armee mit, dass sie in den vergangenen 24 Stunden weitere 450 Hamas-Ziele getroffen habe und ihre Bodentruppen im Gazastreifen "schrittweise" verstärke.
Wie schon am Vortag rief die israelische Armee zudem die Zivilbevölkerung im Norden des Gazastreifens erneut auf, sich in Richtung Süden zu begeben. Dort könnten die Menschen "Wasser, Lebensmittel und Medikamente erhalten", erklärte Armeesprecher Daniel Hagari im Onlinedienst X (vormals Twitter). Er kündigte zudem für Sonntag eine Ausweitung der "von Ägypten und den USA geleiteten humanitären Einsätze für den Gazastreifen" an.
Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte vor einem Zusammenbruch der zivilen Ordnung im Gazastreifen. Mehl und andere grundlegende Dinge seien von Einwohnern aus mehreren Lagerhäusern geholt worden, sagte der UNRWA-Chef für den Gazastreifen, Thomas White, am Sonntag. Dies sei "ein Besorgnis erregendes Zeichen dafür, dass die zivile Ordnung nach drei Wochen Krieg und enger Abriegelung beginnt zu zerfallen".
Nachdem er am Samstag die "beispiellose Eskalation" der Luftangriffe im Gazastreifen scharf kritisiert hatte, forderte UN-Generalsekretär António Guterres am Sonntag erneut eine "sofortige" Waffenruhe. Angesichts zunehmender Opferzahlen und schwindender lebenswichtiger Vorräte an Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Unterkünften werde die Lage im Gazastreifen "von Stunde zu Stunde verzweifelter", sagte Guterres. Auch die UN-Vollversammlung hatte am Freitag (Ortszeit) mit großer Mehrheit in einer Resolution eine "sofortige humanitäre Waffenruhe" im Gazastreifen gefordert.
In der Nacht zu Samstag hatte die israelische Armee ihre bislang heftigsten Angriffe in dem Palästinensergebiet seit Beginn des Krieges vor drei Wochen ausgeführt. Armee-Angaben zufolge wurden dabei 150 unterirdische und militärische Ziele der Hamas getroffen. Zudem sei einer der Hauptverantwortlichen für den Großangriff auf Israel getötet worden.
Kurz zuvor hatte Israel die Internetverbindungen in dem Gebiet gekappt. Am Sonntag wurden diese allmählich wiederhergestellt. Allerdings kündigte der israelische Kommunikationsminister Schlomo Karhi an, mögliche von Hightech-Milliardär Elon Musk über das Satellitennetzwerk Starlink zur Verfügung gestellte Verbindungen zu kappen. Die Hamas würde die Verbindungen für "terroristische Zwecke" nutzen, erklärte Karhi. Musk hatte sich bereit erklärt, "international anerkannten Hilfsorganisationen" im Gazastreifen Internetzugang über Starlink ermöglichen.
Die Hamas forderte unterdessen die Freilassung sämtlicher in Israel inhaftierter Palästinenser. "Wir sind bereit, sofort einen Austausch zu vereinbaren", um "alle Gefangenen" in Israel "gegen alle Geiseln" freizulassen, erklärte der Hamas-Chef im Gazastreifen, Jahja Sinwar, in seiner ersten Stellungnahme seit Kriegsbeginn.
Ohne sich zu möglichen Austausch-Absprachen zu äußern, sagte Netanjahu am Samstag zu Angehörigen der Geiseln, dass seine Regierung "jeder Option nachgehen wird, um sie nach Hause zu holen".
Erstmals seit dem verheerendsten Angriff auf Israel seit seiner Staatsgründung vor 75 Jahren äußerte sich Netanjahu auch zu der Kritik, vorherige Warnungen ignoriert zu haben. Bis zum Beginn des Kriegs am 7. Oktober sei "der Ministerpräsident nie vor kriegerischen Absichten der Hamas gewarnt worden", erklärte Netanjahu in einem Beitrag auf X. Der Eintrag wurde allerdings kurz nach Veröffentlichung wieder gelöscht und durch eine Entschuldigung ersetzt.
Darin erklärte Netanjahu: "Ich hatte Unrecht. Was ich nach der Pressekonferenz gesagt habe, hätte nicht gesagt werden dürfen, und dafür entschuldige ich mich. Ich stehe voll und ganz hinter allen Verantwortlichen für die Sicherheit."
Die im Gazastreifen herrschende militant-islamistische Palästinenserorganisation Hamas hatte am 7. Oktober einen Großangriff auf Israel gestartet und dabei nach israelischen Angaben etwa 1400 Menschen getötet. Zudem verschleppten die schwer bewaffneten Islamisten nach jüngsten israelischen Angaben 230 Menschen als Geiseln.
Als Reaktion auf den Großangriff riegelte Israel den Gazastreifen ab und startete massive Luftangriffe auf mutmaßliche Hamas-Ziele. Seit Beginn des Kriegs wurden durch die israelischen Angriffe nach von unabhängiger Seite nicht nachprüfbaren Hamas-Angaben inzwischen mehr als 8000 Menschen getötet.
kas/dja