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Israel räumt Zivilisten im Gazastreifen vor Bodenoffensive mehr Zeit zur Flucht ein

Angesichts der israelischen Vorbereitungen für eine Bodenoffensive im Gazastreifen wächst international die Besorgnis, dass sich der Krieg zwischen Israel und der Hamas regional ausweiten könnte. Während Israel den Zivilisten im Norden des Palästinensergebiets weitere Zeit zur Flucht einräumte, kam es an der Grenze zum Libanon erneut zu Feuergefechten. Die USA wollen am Montag ihre Staatsbürger aus Israel evakuieren, die Bundeswehr flog am Wochenende Deutsche aus. Hektische diplomatische Bemühungen um Deeskalation setzten sich in der gesamten Nahost-Region fort.

Ein israelischer Armeesprecher sagte am Samstagabend, Israel räume den Bewohnern weitere Zeit ein, "weil es noch eine riesige Menge Leute gibt, die gehen müssen". Eigenen Angaben zufolge bereitet sich die israelische Armee auf eine Bodenoffensive in dem Palästinensergebiet vor. Die Armee sicherte erneut für drei Stunden am Sonntag bis 14.00 Uhr MESZ zu, keine Angriffe auf eine Route aus dem Norden des Gazastreifens zu verüben, damit sich die Einwohner im Süden des Palästinensergebietes in Sicherheit bringen könnten. Israel wirft der Hamas vor, die Flucht der Zivilisten zu blockieren, um sie als "menschliche Schutzschilde" zu benutzen.

Die israelische Armee wartet nach den Worten eines Sprechers auf eine "politische Entscheidung" zum Beginn ihrer großangelegten Bodenoffensive im Gazastreifen, Panzer, Soldaten und schweres Gerät sind bereits rund um den Gazastreifen in Stellung gebracht. Der Iran warnte eindringlich vor einer israelischen Bodenoffensive. Dann könne niemand mehr eine "Garantie" geben, dass sich der Konflikt nicht ausweite, sagte Außenminister Hossein Amir-Abdollahian. Die USA kündigten die Verlegung eines zweiten Flugzeugträgers ins östliche Mittelmeer an, "um von feindlichen Handlungen gegen Israel" abzuschrecken.

In Gaza sind bereits ganze Häuserblocks zerbombt, die Krankenhäuser sind mit Verletzten überfüllt. Am Sonntagmorgen stiegen schwarze Rauchsäulen aus den Ruinen der Stadt. Die Zahl der Todesopfer durch die israelischen Angriffe stieg nach jüngsten palästinensischen Angaben auf mehr als 2300, die der Verletzten auf über 9000. 

Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas hatte am Samstag vergangener Woche einen Großangriff auf Israel gestartet. Sie feuerte tausende Raketen ab und drang mit hunderten Kämpfern nach Israel ein, die dort ein Blutbad unter Zivilisten anrichteten. Nach vorläufigen Angaben wurden mehr als 1300 Menschen getötet, darunter 286 Soldaten. Die Armee bestätigte am Sonntag die Verschleppung von mindestens 126 Geiseln in den Gazastreifen, auch diese Zahl ist aber vorläufig. Die Leichen einiger Geiseln wurden bereits im Gazastreifen bei Spezialoperationen der israelischen Armee entdeckt. Unter den Geiseln sind auch mehrere Deutsche.

Nach dem Hamas-Großangriff nahm die israelische Armee den Gazastreifen unter Dauerbeschuss und riegelte das Palästinensergebiet vollständig ab. Die Einfuhr von Treibstoff, Lebensmitteln und Trinkwasser wurde gestoppt. Am Freitagmorgen forderte die israelische Armee rund 1,1 Millionen Zivilisten im Norden des Gazastreifens auf, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Nach UN-Angaben kam es seitdem zu einer Massenflucht aus dem nördlichen Gebiet. 

Eine mögliche Bodenoffensive dürfte auch durch die Tunnel der Hamas erschwert werden. Nach Einschätzung der Armee ist die Hamas-Führung "in die Tunnel geflüchtet". Deswegen hätten sie "keine Ahnung, wie die Lage an der Oberfläche ist", sagte Militärsprecher Peter Lerner am Samstag. 

Auch im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon ist die Lage extrem angespannt. Am Sonntag wurden nach israelischen Angaben bei Beschuss aus dem Libanon auf einen israelischen Grenzort ein Mensch getötet und weitere verletzt. Israels Militär erklärte, Vergeltungsschläge auszuführen und sperrte die Grenzzone zum Südlibanon für Zivilisten.

Derweil bemühten sich Länder wie die USA und Deutschland weiter um die Ausreise ihrer Staatsbürger. Die US-Botschaft in Israel erklärte, dass ein Schiff US-Bürger und deren Angehörige von Israel am Montag nach Zypern bringen werde. Deutschland flog in der Nacht zu Sonntag bereits Landsleute mit Militärflugzeugen nach Hause. Für Israel, die Palästinensergebiete und den Libanon gab das Auswärtige Amt eine offizielle Reisewarnung aus.

Internationale wuchs auch die Besorgnis wegen der humanitären Lage im Gazastreifen. UN-Generalsekretär António Guterres hatte einen "sofortigen humanitären Zugang" gefordert. "Israels Handeln hat den Rahmen der Selbstverteidigung gesprengt", kritisierte der chinesische Außenminister Wang Yi. China will angesichts einer drohenden Eskalation im Nahen Osten einen Vermittler in die Region schicken. 

In Kairo bemühte sich am Samstag Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) um die deutschen Geiseln - nach ihren Angaben sind den Behörden acht Fälle im Zusammenhang mit Deutschen bekannt. Sie betonte, der Kampf gegen die Hamas müsse "mit größtmöglicher Rücksicht auf die humanitäre Situation" im Gazastreifen geführt werden.

Auch US-Außenminister Antony Blinken reist derzeit durch den Nahen Osten. In Riad forderte er Saudi-Arabien dazu auf, Druck auf die Hamas für ein Ende ihrer Angriffe auszuüben. Saudi-Arabien hat wegen des Kriegs seine Gespräche über eine diplomatische Annäherung mit Israel auf Eis gelegt. Am Sonntag traf Blinken in Ägypten ein, am Montag will er nach Israel zurückkehren.

oer/cp