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Internationaler Druck auf Belarus nach erzwungener Flugzeuglandung steigt

Rolle Russlands rückt in den Fokus - Sorge um Regierungskritiker Protassewitsch

Nach der erzwungenen Landung eines Passagierflugzeugs in Belarus und der Festnahme des Regierungskritikers Roman Protassewitsch rückt die Rolle Russlands bei dem Vorgang in den Fokus. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte am Dienstag an, Kreml-Chef Wladimir Putin auf Mutmaßungen anzusprechen, wonach sein Land in den Fall verwickelt sei. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte, was der der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko getan habe, sei an "Niedertracht kaum zu überbieten".

Belarus hatte am Sonntag eine Ryanair-Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius unter dem Vorwand einer Bombendrohung und mit einem Kampfjet zur Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Dort wurden der im Exil lebende Protassewitsch und seine aus Russland stammende Freundin Sofia Sapega, die sich an Bord der Maschine befanden, festgenommen.

Angesichts der engen Beziehungen zwischen Minsk und Moskau wurden rasch Spekulationen über eine russische Beteiligung an dem Vorgang laut. "Dass es ein enges Verhältnis zwischen Belarus und Russland gibt, das ist bekannt", sagte Merkel. Sie verwies mit Blick auf eine mögliche Verwicklung Moskaus auf die Tatsache, dass einige Passagiere aus der Maschine nach dem Vorfall in Minsk nicht nach Vilnius weiterflogen.

Sie könne aber über den Grund dafür "nur mutmaßen. Und das möchte ich nicht." Auch dem EU-Gipfel in Brüssel am Montag hätten "keine gesicherten Erkenntnisse" zur Rolle Russlands vorgelegen.

Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten bei ihrem Gipfel die Sperrung des Luftraums für Flugzeuge aus Belarus sowie ein Landeverbot auf EU-Flughäfen vereinbart. Sie riefen Airlines aus der EU auf, Belarus nicht mehr zu überfliegen. Zahlreiche Fluggesellschaften, darunter Lufthansa und Air France, kündigten inzwischen an, den belarussischen Luftraum bis auf Weiteres zu meiden.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, die EU-Staats- und Regierungschefs hätten "zusätzliche Sanktionen gegen Einzelpersonen beschlossen, die an dieser Entführung beteiligt waren".

Außenminister Maas kündigte eine "zügige und entschlossene" Umsetzung der Strafmaßnahmen an. "Was Lukaschenko getan hat, ist an Niedertracht kaum zu überbieten", betonte Maas. "Jedem Diktator der mit derlei Gedanken spielt, dem muss klar gemacht werden, dass es dafür einen bitteren Preis zu zahlen gibt." Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte angesichts des Vorfalls eines "grundlegende Neubestimmung" der Beziehungen der EU zu Russland und Belarus.

Mit der erzwungenen Flugzeuglandung befasst sich nach Diplomatenangaben am Mittwoch in einer Dringlichkeitssitzung auch der UN-Sicherheitsrat. Russland, das zu den Vetomächten in dem wichtigsten UN-Gremium gehört, bezeichnete die Pläne der EU, Belarus vom europäischen Flugverkehr abzuschneiden, als "bedauerlich".

Ein vom belarussischen Staatsfernsehen verbreitetes angebliches Geständnis Protassewitschs, auf dem der Journalist mit blauen Flecken im Gesicht zu sehen war, rief derweil Sorgen um dessen Gesundheitszustand hervor. Die Bilder von Protassewitsch seien "erschütternd", sagte Merkel.

Der Sprecher des UN-Menschenrechtskommissariats, Rupert Colville, sagte, es sei davon auszugehen, dass Protassewitschs angebliches Geständnis "erzwungen" gewesen sei. Der 26-Jährige hatte in dem Video gesagt: "Ich werde weiter mit den Ermittlern zusammenarbeiten und gestehe, Massenproteste in der Stadt Minsk organisiert zu haben."

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja bezeichnete Protassewitsch als "Opfer von Folter". Sie rief die USA und die restlichen G7-Staaten auf, ebenfalls den Druck auf Lukaschenko zu erhöhen und forderte, der belarussischen Opposition die Teilnahme am G7-Gipfel im Juni im britischen Carbis Bay zu ermöglichen. US-Präsident Joe Biden erklärte, seine Regierung bereite "angemessene" Schritte gegen die Verantwortlichen vor.

Protassewitsch war früher Chefredakteur des Telegram-Nachrichtenkanals Nexta. Über Nexta waren nach der von Betrugsvorwürfen begleiteten belarussischen Präsidentschaftswahl im vergangenen August hunderttausende Demonstranten mobilisiert worden. Protassewitsch wird vorgeworfen, Massenproteste ausgelöst zu haben, worauf in Belarus bis zu 15 Jahre Haft stehen.

In den vergangenen Monaten waren gegen dutzende Aktivisten und Journalisten in Belarus Haftstrafen verhängt worden. Am Dienstag wurden sieben weitere Angeklagte im Zusammenhang mit den Massenprotesten zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.

by Wojtek RADWANSKI