Am 10. Juni 1994 versammelte sich eine Gruppe von Freunden und Familienangehörigen in einer Anwaltskanzlei in Santa Monica, Kalifornien, um den letzten Willen der 79-jährigen Thelma Pearl Howard zu verlesen. Thelma war einige Wochen zuvor, nur 16 Tage vor ihrem 80. Geburtstag, in aller Stille in einem Pflegeheim gestorben. Äußerlich betrachtet führte Thelma Howard ein sehr bescheidenes Leben. Ihre bemerkenswerteste Leistung bestand darin, dass sie mehr als dreißig Jahre lang als Walt Disneys persönliche Haushälterin arbeitete. Sie kochte alle Mahlzeiten für Walt und half bei der Erziehung seiner beiden kleinen Töchter. Für diese Dienste erhielt sie ein bescheidenes Jahresgehalt, vielleicht etwas mehr als die durchschnittliche Haushälterin, weil ihr Chef so reich und berühmt war. Sie können sich also vorstellen, wie groß der Schock war, als Thelmas Anwalt verkündete, dass sie tatsächlich ein millionenschweres Aktienportfolio besaß und die Hälfte ihres beeindruckenden Nettovermögens der Wohlfahrt vermachte. Wie kam es, dass eine einfache Haushälterin mit einem Millionenvermögen auf der Bank starb? Die Geschichte ist wirklich herzerwärmend und inspirierend.
Thelma Pearl Howard wurde im Juni 1915 in einer sehr armen Bauernfamilie in Southwick, Idaho, geboren. Thelma war das zweite von fünf Kindern. Ihre Kindheit war voller Schmerz, als ihre Mutter im Alter von sechs Jahren auf tragische Weise bei der Geburt ihres Kindes starb. Zwei weitere Geschwister starben unerwartet, bevor sie 18 Jahre alt war. Thelma zog für kurze Zeit nach Spokane, Washington, um das College zu besuchen, musste das Studium aber vor Abschluss eines ganzen Jahres abbrechen, weil sie sich die Studiengebühren nicht mehr leisten konnte. Nach Spokane zog Thelma nach Los Angeles, wo sie drei Jobs hatte, um über die Runden zu kommen. Sie schenkte Getränke in einem Limonadenbrunnen aus, putzte Häuser und arbeitete in Teilzeit als Sekretärin.
Im Jahr 1951, im Alter von 36 Jahren, fand Thelma einen Traumjob, als sie als Haushälterin in Walt Disneys weitläufigem Anwesen in Holmby Hills, Kalifornien, angestellt wurde. Man kann sich nur den Kulturschock vorstellen, den sie empfunden haben muss, als sie aus so bescheidenen Verhältnissen in eine Villa mit 8 Schlafzimmern, 17 Badezimmern und 3,6 Hektar Land einzog, die im Oktober 2012 für 90 Millionen Dollar gelistet wurde. Das Poolhaus des Disney-Anwesens war größer als das gesamte Haus ihrer Familie in Idaho. Natürlich hätte sich Thelma nie träumen lassen, in einem Haus zu leben, das über ein Putting Green, einen Tennisplatz, einen Swimmingpool, eine Bibliothek, ein Fitnessstudio und vieles mehr verfügt.
Bis zu Thelma konnte Walt Disney keine Haushälterin finden, die sich mit seiner Familie verstand. Die vorherige Haushälterin war zwar eine gute Köchin, kam aber mit seinen beiden kleinen Töchtern nicht zurecht. Die Spannungen waren sogar so groß, dass die vorherige Haushälterin den Kindern verbot, jemals die Küche zu betreten. Außerdem zwang sie die Mädchen, in ihren Zimmern zu bleiben, während sie das Haus putzte. Thelma war das genaue Gegenteil. Sie liebte die beiden jungen Mädchen und genoss ihre Gesellschaft, während sie jeden Abend ein fantastisches Drei-Gänge-Menü zubereitete. Während Thelma kochte, saßen Diane und Sharon Disney an der Küchentheke und bestaunten die Mahlzeiten, die auf magische Weise zubereitet wurden. Zusätzlich zu den Drei-Gänge-Menüs wusste Thelma, dass der Kühlschrank mit Walts Lieblingssnack, den Hotdogs, gefüllt sein musste, die er offenbar jeden Abend vor dem Abendessen verschlang. Im Gegensatz zu ihrer vorherigen Haushälterin war Thelma warmherzig und liebevoll und wurde schließlich ein Teil der Disney-Familie. Walt ging sogar so weit, Thelma als "die echte Mary Poppins" zu bezeichnen.
In den dreißig Jahren, in denen Thelma für die Disney-Familie arbeitete, erhielt sie etwas mehr als das Durchschnittsgehalt einer Haushälterin. Außerdem erhielt sie freie Kost und Logis, was ihr zwar viel Geld einbrachte, sie aber niemals "reich" machen würde. Auf der anderen Seite bot die Arbeit für Walt Disney Thelma einen ganz besonderen Vorteil. Jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag schenkte Walt Thelma Aktien von Disney als Bonus. Je größer das Disney-Imperium wurde, desto mehr Aktien erhielt sie. Weil Thelma Walt so sehr respektierte, verkaufte sie in ihrem ganzen Leben keine einzige Aktie und verwendete sogar einen Teil ihres eigenen Geldes, um nebenbei weitere Aktien zu kaufen.
Im Laufe der Jahre blähte sich Thelmas Aktienportfolio langsam auf. Aus ein paar Aktien wurden hundert. Aus hundert wurden tausend. Aus tausend wurden zehntausend und so weiter. Als Thelma die ersten Aktien erhielt, war der Besitz von Disney-Aktien nicht besonders aufregend. Dann, zwischen 1945 und 1965, entwickelte sich das Unternehmen zu dem kulturellen Phänomen, das die Welt heute kennt und liebt. Disneyland wurde im Juli 1955 eröffnet und war sofort ein Erfolg. Danach begannen die Disney-Studios mit einer Reihe von Filmklassikern wie "Lady and the Tramp" (1955), "Dornröschen" (1959), "Hundertundein Dalmatiner" (1961) und "Mary Poppins" (1964). Mary Poppins" spielte 30 Millionen Dollar an den Kinokassen ein, mehr als jeder andere Film im Jahr 1964, und mit Neuauflagen sollte er später den inflationsbereinigten Gegenwert von 375 Millionen Dollar einspielen. Mit dem Wachstum des Unternehmens wuchs auch der Aktienkurs. Dank dieser jährlichen Schenkungen und einer Reihe von Aktiensplits hatte Thelma bis zu ihrem Tod im Jahr 1994 erstaunliche 193.000 Disney-Aktien angehäuft, die damals 9,5 Millionen Dollar wert waren!
Thelma ging 1981 in den Ruhestand und verbrachte die nächsten zehn Jahre ein ruhiges Leben in einem bescheidenen Bungalow mit zwei Schlafzimmern, bis ihre schwindende Gesundheit sie dazu zwang, in ein ebenso bescheidenes Pflegeheim zu ziehen. Nach ihrem Tod wurde eine kleine Gruppe von Freunden und Verwandten zur Verlesung ihres Testaments einberufen. Die Anwesenden trauten ihren Ohren nicht, als der Anwalt erklärte, dass Thelma nicht nur als Multimillionärin gestorben war, sondern die Hälfte ihres Vermögens für eine wohltätige Stiftung vorgesehen hatte. Die andere Hälfte hinterließ Thelma ihrem erwachsenen Sohn, der geistig behindert war und in einer Vollzeitpflegeeinrichtung in Long Beach lebte. Im Laufe der nächsten 20 Jahre spendete die Thelma Pearl Howard Foundation Millionen von Dollar an Dutzende von Wohltätigkeitsorganisationen. Ihre Stiftung ist besonders aktiv in der Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen, die sich auf benachteiligte Kinder und Kunsterziehung konzentrieren. Da Thelma selbst eine schwierige Kindheit hatte, hielt sie es für besonders wichtig, ihren Teil dazu beizutragen, anderen gefährdeten Kindern zu helfen.
Und es gibt noch ein letztes Rätsel. Wenn Thelmas ursprüngliche Aktien nie verkauft wurden und heute immer noch treuhänderisch verwaltet werden, hätten sie sich dank eines 3:1-Splits im Juni 1998 von 193.000 Aktien auf 579.000 verdreifacht. Wenn dieses Szenario zutrifft, wären Thelmas 579.000 Aktien bei Disneys letztem Schlusskurs von 130 Dollar heute stolze 75 Millionen Dollar wert! Nicht schlecht für eine arme Haushälterin aus Idaho.
