Vier Tage und vier Nächte hat es gedauert, doch am Ende gab es eine Einigung: Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs verständigten sich am frühen Dienstagmorgen auf ein 1,8 Billionen Euro schweres Finanzpaket, mit dem unter anderem die Corona-Krise bewältigt werden soll. Ein historischer Schritt, denn erstmals sollen gemeinsam massiv Schulden aufgenommen werden. Besonders am Kapitel zur Rechtsstaatlichkeit hagelte es jedoch Kritik. Das EU-Parlament, das der Einigung noch zustimmen muss, forderte Nachverhandlungen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich "sehr erleichtert", als sie nach Abschluss der Verhandlungen im Morgengrauen in Brüssel vor die Presse trat. Es sei gut, "dass wir uns zum Schluss zusammengerauft haben". Europa habe so gezeigt, dass es bereit sei, auf außergewöhnliche Situationen mit außergewöhnlichen Antworten zu reagieren.
Seit Freitag hatten die Staats- und Regierungschefs zunächst insbesondere über den Corona-Aufbauplan verhandelt. Die dafür vorgesehenen 750 Milliarden Euro sollen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besonders in stark getroffenen Mitgliedstaaten im Süden Europas abmildern. Die EU-Kommission erhält die Befugnis, sich das Geld an den Finanzmärkten zu leihen.
Um die Zusammensetzung des Hilfsfonds wurde tagelang knallhart gefeilscht. Die "sparsamen Vier" Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark wehrten sich gemeinsam mit Finnland gegen die Vergabe von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und forderten, nur Kredite zu vergeben. Am Ende wurde der Zuschuss-Anteil von 500 auf 390 Milliarden Euro gesenkt.
Im Gegenzug setzten die "Sparsamen" erhebliche Erhöhungen der Nachlässe auf ihre EU-Beitragszahlungen durch - die Nachlässe, deren Abschaffung die EU-Kommission und Parlament gefordert hatten. Merkel verteidigte das System als notwendig für das Gleichgewicht. Auch Deutschland erhält einen beträchtlichen Rabatt auf seine Beiträge.
Die gemeinschaftlichen Corona-Schulden sollen laut der Einigung bis zum Jahr 2058 getilgt sein. Dafür vereinbarte der Gipfel die Einführung neuer Abgaben. Eine Abgabe auf nicht recyceltes Plastik ist bereits beschlossen, Einfuhrgebühren auf CO2-intensive Produkte aus Drittstaaten sowie eine spezielle Steuer für Digitalunternehmen sollen folgen.
Verabschiedet wurde auch der nächste EU-Finanzrahmen für 2021 bis 2027 mit einem Volumen von 1074,3 Milliarden Euro. Für dieses Geld und die Corona-Mittel trafen die EU-Länder erstmals eine Einigung in der hoch umstrittenen Frage, ob EU-Gelder bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden können. Diese Möglichkeit ist nun grundsätzlich vorgesehen, wird so schnell wohl aber keine Anwendung finden.
Viele Details des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus blieben ungeklärt und müssen bei einem weiteren Gipfel finalisiert werden. Polen und Ungarn, die beide wegen der Untergrabung von Werten wie der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz seit Jahren am Pranger stehen, sahen sich als Sieger.
Natürlich seien die Verhandlungen schwierig gewesen, sagte Ratspräsident Charles Michel. Mit einer Gesamtdauer von rund 91,5 Stunden knackte der Gipfel fast den Rekord des längsten Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs. Lediglich ein Gipfel in Nizza im Jahr 2000 war nach Angaben des EU-Rats noch 25 Minuten länger.
In den Bewertungen der Einigung war "historisch" wohl die am häufigsten genutzte Bezeichnung. Unter anderem Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) und SPD-Vizefraktionschef Achim Post beschrieben so das Gipfelergebnis. Kritik gab es vor allem am Rechtsstaatsmechanismus. Die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner warf den Staats- und Regierungschefs vor, die Entscheidung darüber vertagt zu haben.
Gemischt war auch die Reaktion im EU-Parlament. Die Bereitschaft, gemeinsam massiv Schulden aufzunehmen, sei ein enorm wichtiger Schritt, erklärte das fraktionsübergreifende Verhandlungsteam für den Haushalt. An der Einigung für den nächsten Finanzrahmen ließen die Abgeordneten aber kaum ein gutes Haar: Ob Investitionen in Zukunftsbereiche, neue Einnahmequellen oder die Rechtsstaatlichkeit - "der Kompromiss ist eine eklatant verpasste Chance".
"Das Parlament ist nach wie vor bereit, unverzüglich in Verhandlungen einzutreten, um ein besseres Abkommen für Europa zu erreichen", boten die Abgeordneten an. Seitens der EU-Staats- und Regierungschefs dürfte daran nach dem Marathon-Gipfel aber wohl kein großes Interesse bestehen.
by Von Peter EßER, Martin TRAUTH