Rückenwind für die Kanzlerkandidatin und sozialer Ausgleich für den Klimaschutz: Die Grünen haben auf ihrem Bundesparteitag die Weichen für die Bundestagswahl gestellt. Sie verabschiedeten am Sonntag das Wahlprogramm, mit dem die Regierungsübernahme gelingen soll. Dieses Ziel wurde trotz der deutlichen Umfrage-Delle bekräftigt. "Erstmals seit Jahrzehnten liegt echter Wechsel in der Luft", sagte Parteichefin Annalena Baerbock, die mit 98,5 Prozent offiziell zur Kanzlerkandidatin gekürt wurde.
Das Wahlprogramm mit dem Titel "Deutschland. Alles ist drin" setzt den Fokus auf einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Baerbock betonte die Notwendigkeit, einen breiten gesellschaftlichen Konsens für den Klimaschutz zu erreichen. Nur wenn alle mitgenommen würden, "werden die Bündnisse für den Klimaschutz stärker sein als die Bündnisse dagegen".
Die Grünen wollen nach der angestrebten Regierungsübernahme ein Klimaschutz-Sofortprogramm auflegen. Das deutsche Klimaziel für 2030 soll auf eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 70 Prozent angehoben werden. Die Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro wollen sie auf 2023 vorziehen.
Um die Einnahmen aus dem CO2-Preis direkt an die Bürger zurückzugeben, sollen die EEG-Umlage gesenkt und ein Energiegeld eingeführt werden, das jeder Bürger erhält. Ab 2030 sollten nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden.
Kurzstreckenflüge wollen die Grünen bis 2030 überflüssig machen - durch einen massiven Ausbau der Bahn. Kerosin soll durch klimaneutrale Treibstoffe ersetzt werden.
Den gesetzlichen Mindestlohn wollen die Grünen auf zwölf Euro anheben. Besonders Gutverdienende wollen sie stärker besteuern. Das bisherige Hartz-IV-System soll durch eine Garantiesicherung ersetzt werden, die auf Sanktionen verzichtet. Als Sofortmaßnahme soll der Hartz-IV-Satz um mindestens 50 Euro steigen. Mit einem Bundesgesetz sollen außerdem Mietobergrenzen im Bestand ermöglicht werden.
Die Grünen zeigten sich in der dreitägigen Programmdebatte äußerst geschlossen. Fast alle Änderungsanträge verfehlten die Mehrheit, so dass es im Wesentlichen bei der Vorlage des Bundesvorstandes blieb.
Ko-Parteichef Robert Habeck sagte am Sonntag, die Grünen gingen "geschlossen, geeint, entschlossen" in den Wahlkampf. Baerbock sagte, ihre Partei sei "gerüstet wie noch nie". Auf dem Weg zur Bundestagswahl werde sicher auch wieder Gegenwind kommen. Aber der Rückenwind aus dem Parteitag werde zeigen: "In diesem Sommer ist alles drin."
In der Programmdebatte warb Baerbock für "eine andere Art von Regierungsverständnis" und ein "neues politisches Miteinander". Nötig seien ein "starkes und selbstbewusstes Parlament", eine viel stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger sowie ein gut ausgestatteter und moderner Staat.
"Eine Ära geht zu Ende", sagte Baerbock in ihrer Rede am Samstag mit Blick auf die Regierungszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Und wir haben die Chance, eine neue zu begründen." Die Kanzlerkandidatin ging erneut auf die Fehler der vergangenen Wochen ein, über die sie sich "tierisch geärgert" habe.
Baerbock war wegen Fehlern in ihrem Lebenslauf in die Kritik geraten. Zudem hatte sie Nebeneinkünfte aus der Parteiarbeit zu spät an die Bundestagsverwaltung gemeldet. Die Grünen waren nach Baerbocks Vorstellung als Kanzlerkandidatin im April in den Umfragen nach oben geschnellt und hatten die CDU/CSU überholt, inzwischen gingen die Werte aber wieder deutlich zurück.
Linken-Parlamentsgeschäftsführer Jan Korte sagte mit Blick auf Koalitionsoptionen, die Grünen redeten viel vom sozial-ökologischen Umbau. "Gleichzeitig bereitet die Grünen-Führung eine Koalition mit CDU/CSU vor", mutmaßte Korte. Das passe nicht zusammen.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger nannte das Grünen-Wahlprogramm ein "wildes Sammelsurium aus höheren Steuern, zusätzlichen Regulierungen, mehr Abgaben und Ladenhütern einer ideologisch rückwärtsgewandten Politik". Ein Angebot an unternehmerischer Initiative sei "nicht zu erkennen".
by AXEL SCHMIDT