Im Bilanzskandal um den Dax-Konzern Wirecard richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend aufs Bundeskanzleramt. Das Bundesfinanzministerium teilte mehreren Medien mit, es habe vor einer China-Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Informationen an ihr Haus weitergegeben. Laut "Wir" kamen dabei auch Vorwürfe gegen Wirecard zur Sprache. Die Linke will nun Merkel im Finanzausschuss des Bundestags befragen.
Am Wochenende war bekannt geworden, dass sich das Kanzleramt auf der China-Reise Anfang September 2019 für Wirecard und den Markteintritt des Unternehmens in dem Land eingesetzt hatte. Wie das Bundesfinanzministerium dem "Wir" und der "Süddeutschen Zeitung" mitteilte, hatte das Ressort von Olaf Scholz (SPD) "am 23. August auf Anfrage des Kanzleramts per E-Mail verschiedene Informationen zum Fall Wirecard weitergegeben".
Mitgeteilt wurde dem Kanzleramt nach "Wir"-Informationen etwa, dass Wirecard in den Fokus diverser Aufsichtsbehörden gerückt war. "Das Bundesministerium der Finanzen hat an das Bundeskanzleramt auf Arbeitsebene auf - im Übrigen öffentlich bekannte - Vorwürfe gegen das Unternehmen Wirecard hingewiesen", erklärte ein Ministeriumssprecher demnach. Am Dienstag wollte sich das Finanzministerium auf Nachfrage nicht zu dem Vorgang äußern.
Linken-Chefin Katja Kipping forderte Aufklärung von Merkel persönlich. Die Kanzlerin müsse in der für kommende Woche angesetzten Sondersitzung des Finanzausschusses Auskunft darüber geben, "was genau sie gewusst hat" und "welche Konsequenzen sie daraus gezogen hat", erklärte Kipping.
Die Sondersitzung des Finanzausschusses während der parlamentarischen Sommerpause ist für Mittwoch kommender Woche angesetzt. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will dabei persönlich Rede und Antwort stehen. Er wolle den Abgeordneten "alle Auskünfte geben, die gewünscht werden", sagte er. Altmaiers Ministerium hat die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer, die Bilanzfälschungen bei Wirecard offenbar lange nicht entdeckten.
Auch Bundesfinanzminister Scholz wurde in die Sitzung eingeladen. Er plant offenbar ebenfalls, persönlich teilzunehmen. Scholz habe bereits vergangene Woche angeboten, in einer Sondersitzung des Finanzausschusses "den Sachstand zu erläutern", hatte ein Sprecher des Finanzministeriums am Montag gesagt.
Für die Organisation Lobbycontrol sind die verschiedenen Verbindungen zwischen Wirecard und der Bundespolitik ein Indiz für Reformbedarf im Hinblick auf Lobby-Aktivitäten. "Deutlicher kann man nicht machen, warum eine Demokratie maximale Transparenz beim Lobbyismus braucht", erklärte Timo Lange von Lobbycontrol. "Der Fall zeigt, welch zerstörerische Durchschlagskraft Lobbyismus haben kann."
Lange verwies auf die Pläne der Koalitionsfraktionen, vor Jahresende ein verbindliches Lobbyregister einzuführen. "Die aktuellen Skandale unterstreichen, wie wichtig es ist, dass ein Lobbyregister auch Lobbyarbeit gegenüber der Bundesregierung, Ministerien und Kanzleramt erfasst", mahnte er. "Eine Schmalspurlösung, die nur den Bundestag betrifft, reicht nicht aus."
by JOHN THYS