Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung ist mit dem EU-Recht grundsätzlich nicht vereinbar. Ausnahmen seien allerdings möglich, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Dienstag. Bei einer akuten, schwerwiegenden “Bedrohung der nationalen Sicherheit” könne ein Mitgliedsstaat vorübergehend Regelungen zur Sammlung und Speicherung von Telekommunikationsdaten erlassen, hieß es. (Az: C-511/18 und weitere)
Der Gerichtshof bestätigte damit ausdrücklich seine Linie von 2016. Damals urteilte er, dass die anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetdaten unzulässig sei. Nun führte er aus, dass das EU-Recht nationale Gesetzgebung verbiete, die Telekommunikationsanbieter zur pauschalen Speicherung oder Weitergabe von Verkehrs- und Standortdaten verpflichte. Dies stehe vor allem dann im Konflikt mit den europäischen Grundrechten, wenn alle Bürger unabhängig von möglichen Verdachtsfällen betroffen seien.
Das Gericht definierte am Dienstag aber einzelne Ausnahmeregelungen. Demnach kann ein Mitgliedsstaat bei einer ernsthaften akuten oder absehbaren Bedrohung der nationalen Sicherheit Telekommunikationsanbieter anweisen, pauschal Standort- und Verkehrsdaten zu sammeln.
Auch IP-Adressen dürften zur Bekämpfung von Kriminalität gespeichert werden – allerdings nur die des Absenders, nicht die des Empfängers in einer Kommunikation. Solche Regelungen müssten sich allerdings auf den unbedingt erforderlichen Zeitraum beschränken und von Gerichten oder unabhängigen Behörden erlaubt werden.
Konkret ging es in der nun veröffentlichten Entscheidung um nationale Regelungen aus Frankreich, Großbritannien und Belgien. Gerichte aus diesen Ländern baten den EuGH um Auslegung des europäischen Rechts. Mehrere EU-Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, beteiligten sich aber an dem Verfahren und reichten Stellungnahmen ein.
Ihrer Meinung nach ist die Vorratsdatenspeicherung eine Frage der nationalen Sicherheit, die in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegt. Das Gericht entschied allerdings, dass das Thema unter europäisches Recht fällt.
In Deutschland liegt die Vorratsdatenspeicherung derzeit auf Eis, die Politik wartet auf die Entscheidungen der Gerichte. Beim EuGH ist nämlich auch ein deutsches Verfahren anhängig, in dem es darum geht, ob die deutsche Regelung mit EU-Recht vereinbar ist. Hier steht ein Urteilstermin noch aus.
Politisch wurde die Frage in den vergangenen Wochen allerdings leidenschaftlich diskutiert. Vor allem Innenpolitiker der Union wollen Vorratsdatenspeicherung etwa im Kampf gegen Kinderpornografie im Internet nutzen. Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach sich dafür aus, sofern es mit deutschem und europäischem Recht vereinbar sei.
Entsprechend gemischt fielen die Reaktionen auf das Urteil vom Dienstag in Deutschland aus. Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Thorsten Frei (CDU), zeigte sich enttäuscht. Die Entscheidungen blieben hinter den Hoffnungen zurück, erklärte er. Die Vorratsdatenspeicherung sei “das mit Abstand wirksamste Mittel, damit Polizei und Staatsanwaltschaft gegen Kinderschänder und organisierte Kriminalität im Netz vorgehen können”.
Volker Ullrich, rechtspolitischer Sprecher der CSU im Bundestag, sprach von einer “zaghaften” Öffnung der Rechtsprechung, die im Kampf gegen schwere Kriminalität im Netz und insbesondere Kinderpornografie kaum weiterhelfen werde. Es brauche eine einheitliche europäische Lösung.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken twitterte dagegen: “Das ist ein guter Tag für die Freiheitsrechte.” Auch Grünen-Politiker begrüßten das Urteil. “Es schützt Grundrechte und bringt noch einmal mehr Rechtssicherheit”, erklärten der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz und Tabea Rößner, Sprecherin für Netzpolitik.
Die netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, sprach von einer “sehr klaren Aussage” des EuGH. Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger twitterte: “Der EuGH lässt sich nicht unter Druck setzen. Goodbye Vorratsdatenspeicherung”.
Auch Presseorganisationen begrüßten das Urteil. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und der Deutsche Journalistenverband schrieben in einer gemeinsamen Erklärung, die Entscheidung stütze “die Bürgerrechte ganz grundsätzlich”, insbesondere den Quellenschutz im Rahmen der Presse- und Rundfunkfreiheit.
by INA FASSBENDER