Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen bei ihrem Gipfel die innenpolitische Entwicklung in der Türkei deutlich kritisieren. "Die gezielten Angriffe auf politische Parteien und Medien und andere jüngste Entscheidungen stellen schwere Rückschläge für die Menschenrechte dar", heißt es im Entwurf der Gipfel-Schlussfolgerungen vom Donnerstag. Dennoch will die EU Präsident Recep Tayyip Erdogan weitreichende wirtschaftliche und finanzielle Angebote machen.
Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen bei ihrem Video-Gipfel ab dem Nachmittag den Kurs gegenüber Ankara abstecken. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartete "keine einfachen Gespräche". Sie verwies im Bundestag aber darauf, dass die Türkei als Nato-Partner und unmittelbarer Nachbar an der EU-Außengrenze von "strategischer Wichtigkeit" sei. Gleichzeitig erwarte die EU von der Türkei, dass sie "rechtsstaatliche Standards" und Menschenrechte respektiere.
Begrüßt wird im Gipfel-Erklärungsentwurf, dass sich die Türkei zuletzt gesprächsbereit im Konflikt um Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer und bei der Lösung der Zypern-Frage gezeigt habe. Sollte Ankara sich weiter konstruktiv verhalten, sei die EU bereit, die Zusammenarbeit "in einer Reihe von Bereichen" zu verbessern.
Konkret anbieten will die EU demnach eine Ausweitung der Zollunion, Gespräche auf hochrangiger Ebene und zu Reiseerleichterungen für türkische Bürger. Die Staats- und Regierungschefs wollen aber bei allen Angeboten "in einer abgestuften, verhältnismäßigen und umkehrbaren Weise" vorgehen. Abschließende Beschlüsse dürften laut EU-Diplomaten erst beim Gipfel im Juni fallen, um den Druck auf Erdogan aufrecht zu erhalten.
Die EU-Kommission soll laut Erklärungsentwurf zudem beauftragt werden, einen Vorschlag für die weitere Finanzhilfe für die Versorgung der 3,7 Millionen Syrien-Flüchtlinge in der Türkei auszuarbeiten. In einem Flüchtlingsabkommen von 2016 hatte die EU Ankara bereits sechs Milliarden Euro zugesagt, die inzwischen weitgehend ausgegeben oder fest verplant sind. In dem neuen Finanzpaket sollen nun auch Nachbarländer wie Jordanien und Libanon berücksichtigt werden.
Die Staats- und Regierungschefs warnen Ankara gleichzeitig vor "erneuten Provokationen oder einseitigen völkerrechtswidrigen Handlungen", die nach früheren Beschlüssen weitere Sanktionen etwa zum Gas-Streit im östlichen Mittelmeer zur Folge haben könnten. Kein Wort verlieren die EU-Regierungen in der Erklärung über die Beitrittsverhandlungen mit Ankara, die nach den Massenverhaftungen von Erdogan-Gegnern infolge des Militärputsches von 2016 auf Eis gelegt worden waren.
Für Kritik der EU hatte in den vergangenen Tagen der Verbotsantrag gegen die pro-kurdische Partei HDP sowie der Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt gesorgt. Dies laufe "den Verpflichtungen der Türkei zur Achtung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Rechte der Frauen zuwider", steht in der vorbereiteten Gipfel-Erklärung.
Aus dem EU-Parlament kamen Rufe nach Konsequenzen. "Verkaufen Sie nicht Menschenrechte für Realpolitik", appellierte der Grüne Sergey Lagodinsky an die Gipfelteilnehmer in einer Debatte zum Rückzug aus der Istanbul-Konvention. Der SPD-Abgeordnete Dietmar Köster sagte mit Blick auf das geplante HDP-Verbot, die Ausweitung der Zollunion verbiete sich "nach diesem Anschlag auf Demokratie" und Bürgerrechte.
by Von Martin TRAUTH