Die EU-Staats- und Regierungschef haben bei einem Sondergipfel eine gemeinsame Linie im Verhältnis zur Türkei gesucht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warb in Brüssel am Donnerstag für eine diplomatische Lösung im Streit mit Ankara um Gas-Bohrungen im Mittelmeer. Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis sagte, die "Provokationen" der Türkei könnten "nicht länger toleriert werden". Österreich zeigte Verständnis dafür, dass das gleichfalls betroffene Zypern wegen des Gas-Konflikts derzeit EU-Sanktionen zu Belarus blockiert.
In der Türkei-Frage lägen "unterschiedliche Optionen auf dem Tisch", sagte EU-Ratspräsident Charles Michel. Die EU wolle ihre Solidarität mit Zypern und Griechenland demonstrieren. Gleichzeitig strebe sie aber auch mehr Stabilität in der Region an.
Seit der Entdeckung reicher Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer gibt es heftigen Streit um deren Ausbeutung. Sowohl Griechenland und Zypern als auch die Türkei erheben Anspruch auf die betreffenden Seegebiete.
Zypern fordert in dem Streit weitere Sanktionen der EU gegen Ankara. Dies findet aber bisher keine ausreichende Unterstützung. Nikosia blockiert deshalb seit Wochen geplante Sanktionen der EU zum Konflikt um die umstrittene Präsidentschaftswahl in Belarus.
Es gebe trotz aller Schwierigkeiten "ein hohes Interesse der Europäischen Union (...), zu der Türkei ein wirklich konstruktives Verhältnis zu entwickeln", sagte Merkel. Sie verwies dabei darauf, dass die Türkei nicht nur Nato-Land sei, sondern auch Partner der EU in der Flüchtlingsfrage.
Die Solidarität mit Griechenland und Zypern sei "nicht verhandelbar", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. "Wenn ein Mitgliedstaat der EU angegriffen wird, bedroht wird, wenn seine territorialen Gewässer nicht respektiert werden, ist es unsere Pflicht als Europäer, uns solidarisch zu zeigen."
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz forderte, die EU müsse dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan "endlich rote Linien aufzeigen", Sanktionen verhängen und die bereits auf Eis liegenden Beitrittsgespräche mit Ankara endgültig beenden. Zyperns Blnockade bei den Belarus-Sanktionen könne er nachvollziehen, denn das Land fühle sich "allein gelassen gegenüber der Türkei".
Der türkische Präsident Erdogan kritsierte das Vorgehen der EU im Gas-Streit. Die EU sei "zur Geisel der verzogenen Griechen und der griechisch-zypriotischen Regierung" geworden, sagte er in Ankara. "Bei jeder Krise, in die sich die EU eingemischt hat, ist es nur schlimmer geworden." Die Türkei sei aber bereit, "die Kanäle des Dialogs bis zum Ende offen zu lassen".
Die EU-Staats- und Regierungschefs befassen sich auch mit dem militärischen Konflikt um die Kaukasusregion Berg-Karabach. Hier wollen sie laut Entwurf der Gipfelerklärung zu "einem sofortigen Ende der Feindseligkeiten" aufrufen und verlangen, dass ausländische Mächte sich aus dem Konflikt heraushalten.
Den Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny mit einem militärischen Nervenkampfstoff will der Gipfel verurteilen und Russland zur Zusammenarbeit bei der Aufklärung aufrufen. Eine Debatte über Sanktionen ist noch nicht geplant, da die abschließende Bewertung durch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) noch aussteht.
Zum Auftakt beriet der Gipfel zunächst über Wirtschaftsthemen. Auch angesichts der Corona-Krise wollen die Staats- und Regierungschef schon lange geplanten Reformen des EU-Binnenmarktes einen Schub geben.
Gleichzeitig steht das Streben nach "strategischer Autonomie" der EU im Fokus. Die stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Drittstaaten sei "ein Schlüsselziel der Union", heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung. Am Freitag geht es dann unter anderem um das Verhältnis zu China.
by Von Martin TRAUTH und Peter EßER