Kurz vor der UN-Klimagipfel haben es die EU-Mitgliedstaaten gerade noch geschafft, sich auf eine Verschärfung des gemeinsamen Vorgehens gegen die Erderwärmung zu verständigen. "Wir haben beschlossen, unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken", erklärte EU-Ratspräsident Charles Michel am Freitag nach einer langen Verhandlungsnacht. Im Fokus standen vor allem Forderungen Polens nach mehr finanzieller Unterstützung beim Umbau seiner stark durch Kohle geprägten Wirtschaft.
Sie halte es mit Blick auf den UN-Gipfel für "ganz wichtig", am Ende zu einer Einigung gekommen zu sein, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie wolle sich nicht ausmalen, was andernfalls los gewesen wäre. "Dafür hat es sich auch gelohnt, eine Nacht nicht zu schlafen." EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von "einem guten Tag für Europa".
Die EU will ihre verschärften Klimaziele bei einem UN-Videogipfel am Samstag vorstellen. Gemäß dem Pariser Klimaschutzabkommen sind alle Vertragsstaaten, auch die EU, verpflichtet, bis zum 31. Dezember überarbeitete Pläne bei der UNO einzureichen. Ohne Gipfel-Einigung hätte die EU, die sich selbst als Vorreiter beim Klimaschutz sieht, mit leeren Händen dagestanden.
Der Europäische Rat befürwortete nun ein "verbindliches EU-Ziel" für eine Verringerung der Treibhausgasemissionen "um mindestens 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990". Bisher lag der Zielwert bei 40 Prozent. Das neue Ziel soll demnach "gemeinschaftlich" mit Beteiligung aller Mitgliedstaaten erreicht werden. Die Vorgabe, dass jedes einzelne der 27 EU-Länder seinen CO2-Ausstoß um 55 Prozent verringern muss, gilt demnach nicht.
Stattdessen sollen die "unterschiedlichen Ausgangspositionen und spezifischen nationalen Gegebenheiten und Emissionsminderungspotenziale (...) berücksichtigt werden". Aus Diplomatenkreisen hieß es, insbesondere Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki habe darauf gepocht und zudem Garantien gefordert, dass sein Land für den notwendigen wirtschaftlichen Umbau genügend finanzielle Unterstützung erhalte.
Der Gipfel bekannte sich auch zur Nutzung von Erdgas als Übergangslösung zum Erreichen des 2030-Ziels. Die Mitgliedstaaten könnten "die geeignetsten Technologien" frei wählen, "einschließlich Übergangstechnologien wie Gas". Kernenergie wurde nicht explizit erwähnt, die Formulierung lässt eine Einstufung als Übergangstechnologie aber zu.
Länder wie Frankreich, Polen und Tschechien wollen stark auf moderne Erdgas- oder Kernenergie-Projekte setzen, um mittelfristig ihre CO2-Emissionen zu senken. Doch unter den Europäern wird darüber gestritten, ob der fossile Energieträger Gas oder neue Atomkraftwerke mit EU-Geldern gefördert werden sollen.
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte vor dem Treffen gewarnt, die Klimaschutz-Ambitionen dürften nicht zu einem Ausbau der Produktion von Atomstrom führen. "Sonst beißt sich die Katze in den Schwanz."
Die EU hat sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein - also nicht mehr Treibhausgase auszustoßen, als durch natürliche Speicher wie Wälder oder andere Maßnahmen ausgeglichen werden können. Eine gemeinsame Position der Mitgliedstaaten war Voraussetzung für die anstehenden Verhandlungen mit dem Europaparlament, um diese Klimaschutz-Ambitionen endgültig in EU-Recht zu gießen.
Die EU-Abgeordneten hatten sich im Oktober ihrerseits darauf verständigt, für ehrgeizigere Ziele einzutreten. Sie fordern ein Reduktionsziel von 60 Prozent für 2030. Auch liegt diesem Wert nicht dieselbe Berechnungsmethode zugrunde.
Die Mitgliedstaaten sprechen von einem "Netto"-Ziel - das heißt, sie wollen positive Effekte auf die CO2-Bilanz eines Landes, etwa durch die Aufforstung von Wäldern, auf das Klimaziel anrechnen. Das Parlament lehnt dies als "Rechentrick" ab.
Parlamentsvertreter kündigten deshalb harte Verhandlungen an. Unterstützung erhielten sie von Klimaschützern. "Diese Einigung ist nur eine kleine Verbesserung", kritisierte Sebastian Mang von Greenpeace. Die Organisation hält eine Verringerung der CO2-Emissionen um 65 Prozent bis 2030 für notwendig. Die offene Tür für die Förderung von Gas- und Kernenergie sei zudem "gefährlich".
by Von Peter EßER