Der Virginie-Viard-Stil
Aus der rechten Hand wurde der kreative Kopf: Nach dem Tod von Karl Lagerfeld am 19. Februar 2019 übernahm einen Tag später Virginie Viard (58) die Kreativdirektion bei Chanel. Was hat sich ein Jahr danach beim französischen Modehaus getan?
Ihre wahre Feuertaufe hatte Virginie Viard eigentlich erst im Sommer 2019. Damals musste sie beweisen, dass die 30 Jahre an der Seite des Modezaren Früchte getragen haben. Auf der Paris Fashion Week präsentierte Chanel Altbekanntes in nicht ganz neuem Gewande. Die erste Haute-Couture-Kollektion der Französin wies hier und da zwar geringe Abweichungen von den sonst bekannten Schnittmustern auf, alles in allem führte sie das Werk Lagerfelds jedoch fort.
Nicht nur die auf halber Höhe frisierten Zöpfe, welche die Models auf dem Catwalk trugen, weckten Erinnerungen an Lagerfeld. Auch das Setting der Modeveranstaltung schien ihm zu Ehren gewählt worden zu sein. Unter der Glaskuppel des Grand Palais hatte man den Anblick eines gigantischen Bücherregals mit Hunderten Werken darin erschaffen. Der Hintergrund: Lagerfeld galt als Literaturliebhaber. Über 300.000 Bücher sollen in seinen heimischen vier Wänden Platz gefunden haben.
Im Herbst 2019 präsentierte Viard Chanels Ready-to-Wear-Kollektion – wieder in Paris. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass die Lagerfeld-Nachfolgerin eine andere Richtung als der Modezar einschlagen würde. Kaia Gerber (18), Gigi Hadid (24) und Rianne Van Rompaey (24) liefen in extrem kurzen Hot-Pants und Anzügen mit Mini-Shorts über den Laufsteg. Das Setting: eine Nachbildung der berühmten, verzinkten Dächer von Paris.
Viard verpasste dem Chanel-Look eine Verjüngungsspritze, indem sie die typischen Tweed-Kostüme in knappe Kombishorts verwandelte. Überhaupt wirkten die Entwürfe um einiges mädchenhafter als die geradlinigen Modelle Lagerfelds. Hütchen, kurze Kleider mit Volants und wallende Midikleider schwebten über die Dächer von Paris.
Wenige Monate später offenbarte sich unter der Kuppel des Pariser Grand Palais die neue Schlichtheit von Chanel. Während Kaiser Karl Freund von großen und prunkvollen Inszenierungen war, kehrte Viard auf der Haute-Couture-Show von Chanel im Januar dieses Jahres zu den Wurzeln von Coco Chanel zurück. Das Setting war dem Klostergarten der Abtei Aubazine nachempfunden, wo die Chanel-Gründerin ihre Kindheit verbrachte.
Zwar war das ein oder andere aufwendig bestickte Kleid zu bewundern, doch fehlten Taschen, Schmuck und Accessoires gänzlich. Virginie Viard ließ sich von der Schlichtheit des Ortes inspirieren: “Interessant fand ich den Gegensatz zwischen der anspruchsvollen ‘Haute Couture’ und der Einfachheit dieses Ortes”, erläutert sie.
Am Ende besinnt sich die aktuelle Kreativdirektorin also auf das, was das französische Traditionshaus ausmacht: Gründerin und Stil-Ikone Coco Chanel. Und Karl Lagerfeld? Der wusste schon immer, dass der Blick voraus mehr bringt, als in der Vergangenheit hängenzubleiben: “Zukunft ist die Zeit, die übrig bleibt.” Merci, Karl!
(kms/spot)