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Bundeswehr startet Kabul-Luftbrücke - Merkel: 10.000 Menschen werden ausgeflogen

Neues Afghanistan-Mandat mit mehreren hundert Bundeswehr-Soldaten geplant

Die Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan hat die Bundesregierung in den Krisenmodus versetzt: Das Bundesverteidigungsministerium startete am Montag eine Luftbrücke, über welche deutsche Staatsbürger und besonders gefährdete Afghanen aus Kabul ausgeflogen werden sollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte in einer internen Parteisitzung, inklusive den Angehörigen müssten bis zu 10.000 Menschen nach Deutschland in Sicherheit gebracht werden. Sie warnte zugleich vor einer neuen Flüchtlingskrise.

Merkel zeigte sich in einer Sitzung des CDU-Vorstands erschüttert über die Krise in Afghanistan. "Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit gebaut haben - vor allem die Frauen -, sind das bittere Ereignisse", zitierten Teilnehmer die Kanzlerin gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Bei ihrem Evakuierungseinsatz arbeite die Bundeswehr in Kabul eng mit den USA zusammen: "Ohne die Hilfe der Amerikaner könnten wir so einen Einsatz nicht machen."

Die Bundesregierung habe vor Monaten bereits 2500 Ortskräfte identifiziert, wurde Merkel zitiert. Zudem habe die Regierung 2000 weitere Einheimische identifiziert, die mit deutscher Hilfe außer Landes gebracht werden sollten - etwa Menschenrechtler und Anwälte. Inklusive der Angehörigen könnten so rund 10.000 Menschen zusammenkommen, die nach Deutschland ausgeflogen werden sollten.

Der Einsatz der Bundeswehr erfordert die Zustimmung des Bundestags; wegen der Dringlichkeit der Lage wird das Parlament nachträglich über das Mandat abstimmen. Dieses soll den Einsatz von "einigen hundert Soldaten" genehmigen - dies teilte Merkel nach AFP-Informationen bei einer Unterrichtung der Bundestagsfraktionsvorsitzenden mit. Ausgeflogen werden sollten neben deutschen Staatsbürgern und einheimischen Ortskräften auch "besonders gefährdete Frauen, Menschenrechtler und weitere Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen", wie laut Teilnehmern in dem Briefing mitgeteilt wurde.

Die Bundesregierung geht demnach von einem "Operationsfenster bis zum 31. August" aus, hieß es weiter. Die Regierung wollte aber nicht ausschließen, dass sich dieses Fenster für die Evakuierungseinsätze der Bundeswehr früher schließt.

Der Zeitplan sieht vor, dass das Bundeskabinett bereits am Mittwoch die Mandatsvorlage billigt. Am gleichen Tag soll der Verteidigungsausschuss des Bundestags darüber beraten. Das Plenum soll dann am Mittwoch kommender Woche über das Mandat abstimmen - für diesen Tag war ohnehin schon eine Sondersitzung des Bundestags anberaumt worden, weil er dann über die Hilfen für die Hochwassergebiete abstimmen soll.

Bis Montagnachmittag machten sich vier Luftwaffenflüge auf den Weg nach Kabul. Die Evakuierungspläne sehen nach Angaben aus Verteidigungskreisen vor, in Taschkent, der Hauptstadt des Nachbarlands Usbekistan, eine Drehscheibe für Zwischenlandungen der Transportmaschinen aus Kabul einzurichten. Von dort sollten die Passagiere mit Charterflugzeugen nach Deutschland gebracht werden.

Kanzlerin Merkel warnte in der CDU-Sitzung vor einer neuen Flüchtlingskrise. "Viele Menschen werden versuchen, das Land zu verlassen", wurde sie zitiert. "Das Thema wird uns noch sehr lange beschäftigen." Die Bundesregierung werde im Umgang mit der erwarteten Fluchtbewegung eng mit den Nachbarländern Afghanistans zusammenarbeiten.

Kritisch äußerte sich Merkel zur Entscheidung der USA zum Truppenabzug aus Afghanistan: Dies habe einen "Domino-Effekt" bewirkt, der nun zur Machtübernahme der radikalislamischen Taliban geführt habe. Die Entscheidung der USA habe vor allem "innenpolitische Gründe" gehabt, kritisierte sie laut Teilnehmern. "Wir haben immer gesagt: Wenn die Amerikaner dort bleiben, dann bleiben wir dort auch."

Vertreter der Bundesregierung lehnten am Montag eine umfassende Bewertung des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan ab - zunächst stehe nun die akute Krisenbewältigung im Mittelpunkt. CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet zog seinerseits ein vernichtendes Fazit: "Es ist das größte Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erleidet", sagte Laschet. "Es ist eine politische und humanitäre Katastrophe."

Laschet sprach mit Blick auf die Ereignisse in Afghanistan von einem "Epochenwechsel, vor dem wir stehen". Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan stelle auch der europäischen Außenpolitik ein schlechtes Zeugnis aus: "Wir sehen: Die Handlungsfähigkeit Europas ist nicht gegeben ohne die Vereinigten Staaten an unserer Seite."

by Von Peter WÜTHERICH