Die EU-Kommission sieht in einer ganzen Reihe von EU-Staaten Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit - besonders bei Ungarn fiel der erste umfassende Rechtsstaats-Check der Brüsseler Behörde höchst kritisch aus. Die zuständige Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova sprach am Mittwoch von einer "objektiven" Bewertung, "die als Grundlage für den Dialog mit den Mitgliedstaaten dienen soll". Budapest wies den Bericht umgehend zurück. Die EU-Staaten billigten derweil einen deutschen Vorschlag für Finanzsanktionen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit.
Die Regierungen in Budapest und Warschau stehen seit Jahren unter anderem wegen der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz am Pranger der EU. Gegen beide Länder laufen Strafverfahren, die bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnten. Die Mitgliedstaaten schreckten aber bisher vor einer solch weitreichenden Sanktion zurück.
Der Rechtsstaatsbericht stellte Ungarn auch in den Bereichen Korruptionsbekämpfung, Pressefreiheit und institutionelle Gewaltenteilung ein sehr schlechtes Zeugnis aus. So bemängelte die Kommission einen "systematischen Mangel" an entschlossenem Vorgehen gegen Korruption in höchsten Beamtenkreisen. Auch steuere die Politik die Berichterstattung über regierungsfreundliche Medien, systematischen Druck auf unabhängige Berichterstatter und die Übernahme unabhängiger Medien durch regierungsnahe Unternehmen.
Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban wies den Bericht als "absurd" zurück. Konzept und Methodik seien "untauglich". Das Dokument "kann nicht als Grundlage für eine weitere Diskussion über Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union dienen", hieß es aus Budapest.
Eine negative Bewertung in mehrfacher Hinsicht erhielt auch Bulgarien, wo seit Monaten regelmäßig tausende Menschen gegen Korruption und die Regierung protestieren. Das öffentliche Vertrauen in die Institutionen ist in dem Land laut Kommission "sehr gering" und es gebe bedeutsame "Herausforderungen" für die Unabhängigkeit der Gerichte. Ähnlich fiel das Urteil in diesem Bereich für Rumänien, Kroatien und die Slowakei aus.
"Politischer Druck auf Medien" sorge neben Ungarn auch in Bulgarien, Malta und Polen für Besorgnis, heißt es in dem Bericht weiter. In einigen Mitgliedstaaten seien Journalisten zudem "Drohungen" und verbalen und teils sogar körperlichen Angriffen ausgesetzt, heißt es weiter. Die Kommission nennt an dieser Stelle ebenfalls Ungarn und Bulgarien, aber auch Kroatien, Slowenien und Spanien.
Im Falle Deutschlands verweist die Kommission auf die laufende Diskussion, ob Justizminister in Bund und Ländern gegenüber Staatsanwälten weisungsbefugt sein sollten. Brüssel sieht aber genügend rechtliche Garantien, "um das Risiko eines Missbrauchs des Weisungsrechts zu mindern".
Am Mittwochvormittag billigten die EU-Staaten derweil einen deutschen Vorschlag für Finanzsanktionen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Der Plan, EU-Gelder zu kürzen oder zu streichen, wenn Rechtsstaatsverstöße europäische Finanzen betreffen, erhielt bei einem Treffen von Vertretern der 27 Mitgliedstaaten in Brüssel knapp die nötige Mehrheit.
Nach AFP-Informationen lehnten neun Länder den Vorschlag ab, darunter Ungarn und Polen. Die anderen Gegenstimmen kamen aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Luxemburg, Österreich, Schweden und Finnland. Ihnen geht der deutsche Vorschlag nicht weit genug.
Tatsächlich hatte die deutsche Ratspräsidentschaft die Pläne der Kommission deutlich entschärft. Die Hürden für Mittelkürzungen wären nun bedeutend höher. Auch sollen nicht mehr "generelle Missstände" bei der Rechtsstaatlichkeit sanktioniert werden, sondern nur konkrete Problemfälle zu Lasten des EU-Haushalts. "Ich kann mit diesem Vorschlag leben", sagte Kommissionsvizepräsidentin Jourova dazu.
Die Tschechin war erst Anfang der Woche persönlichen Anfeindungen aus Budapest ausgesetzt gewesen, nachdem sie Ungarns Regierungschef Orban in einem "Wir"-Interview vorgeworfen hatte, er baue "eine kranke Demokratie" auf. Orban sprach daraufhin von einer "Demütigung" des ungarischen Volkes und forderte, dass Jourova zurücktreten müsse.
by Von Peter EßER und Martin TRAUTH