Brexit-Endspiel ohne Ende: Weniger als drei Wochen vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt haben London und Brüssel ihre Verhandlungen über ein Handelsabkommen nochmals verlängert. Der britische Premier Boris Johnson zeigte sich aber skeptisch, dass es noch zu einer Einigung kommt. Ein Scheitern ist demnach das "wahrscheinlichste" Szenario.
"Trotz der Erschöpfung nach fast einem Jahr Verhandlungen" und zahlreicher Fristüberschreitungen wollten beide Seiten "noch einen Schritt weitergehen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung nach einem Telefonat von Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntagmittag. Die Verhandlungsführer seien beauftragt worden, "die Gespräche fortzusetzen".
Johnson und von der Leyen hatten zuletzt am Mittwochabend gesprochen, als der Premier nach Brüssel gereist war. Dabei hatten sie sich eine Frist bis Sonntag gesetzt. Einen neuen Termin für das Ende der Verhandlungen legten sie nun nicht fest.
"Unsere Verhandlungsteams haben in den vergangenen Tagen Tag und Nacht gearbeitet", hieß es in der gemeinsamen Erklärung. Die Chefunterhändler David Frost und Michel Barnier sollten nun prüfen, "ob ein Abkommen zu diesem späten Zeitpunkt noch erreicht werden kann".
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Sonntag, es müsse "alles" versucht werden, "um zu einem Ergebnis zu kommen". Jede Möglichkeit, ein Abkommen zu erzielen, sei "hochwillkommen".
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten, bis zum Jahresende bleibt das Land aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Inzwischen ist die Zeit für die rechtzeitige Ratifizierung eines angestrebten Handelsabkommens äußerst knapp.
Der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD), bezeichnete die weitere Verschiebung als "unwürdiges Spiel". Eine "seriöse Ratifizierung" werde "immer unmöglicher". Und Bürger und Unternehmen müssten weiter mit der Unsicherheit über das Ergebnis der Gespräche leben.
Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen sind seit Monaten faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle eines künftigen Abkommens und die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern. Aus britischen Regierungskreisen hatte es am Samstagabend geheißen, das bisherige Angebot der EU sei "inakzeptabel".
Am Samstag versetzte London als Teil seiner Notfallplanung vier bewaffnete Marine-Schiffe in Bereitschaft. Sie sollen beim Scheitern der Gespräche verhindern, dass EU-Fischer ab dem 1. Januar weiter in britischen Gewässern auf Fangzug gehen.
Ein EU-Diplomat sprach am Sonntag von "sehr begrenzter Bewegung" in den Verhandlungen. Johnson habe aber nicht verlangt, die Gespräche zu beenden. "Die Kommission wird das auch nicht tun."
"Ich fürchte, wir sind bei einigen wichtigen Dingen noch sehr weit auseinander", sagte Johnson. "Aber wo Leben ist, ist auch Hoffnung." Es sei jedoch "am wahrscheinlichsten", dass sich Großbritannien auf einen Handel mit der EU nach Bedingungen der Welthandelsorganisation WTO vorbereiten müsse.
Ohne Handelsabkommen würden im beiderseitigen Handel zum Jahreswechsel Zölle nach WTO-Konditionen erhoben. Wirtschaftsverbände rechnen dann mit massiven Staus an den Grenzen im Lieferverkehr, der Unterbrechung wichtiger Lieferketten der Industrie und warnen vor Milliarden an Mehrkosten und Einnahmeausfällen.
Angesichts dieses drohenden "harten Brexit" prüft die Fracht-Tochter der Lufthansa eine Ausweitung ihrer Kapazitäten. Wie eine Sprecherin der Lufthansa Cargo der "Welt am Sonntag" sagte, erwägt das Unternehmen auf Strecken von und nach Großbritannien den Einsatz größerer oder zusätzlicher Flugzeuge.
by Von Martin TRAUTH