Im Rennen um das US-Präsidentenamt hat Herausforderer Joe Biden einen möglicherweise entscheidenden Sprung nach vorn gemacht: Im eigentlich konservativ geprägten Schlüsselstaat Georgia überholte der Demokrat bei der Auszählung der Wählerstimmen am Freitag laut US-Medien Amtsinhaber Donald Trump. Dessen Ton wurde derweil noch brachialer: Mit neuen Tiraden zu einem angeblichen "Wahlbetrug" bei der Stimmauszählung heizte er die Stimmung weiter an; sein Sohn rief gar zum "totalen Krieg" in der Wahlschlacht auf.
Mit gut tausend Stimmen Vorsprung schob sich Biden am Freitagmorgen (Ortszeit) in Georgia am US-Präsidenten vorbei, wie die US-Sender CNN und Fox News berichteten. Zwar waren in dem Bundesstaat immer noch nicht alle Stimmen gezählt, 99 Prozent aber laut CNN schon. Trump hatte seit der Wahl am Dienstag in dem Südstaat in Führung gelegen; sein Vorsprung schrumpfte aber zunehmend - nun übernahm Biden die Führung. Bei der Präsidentenwahl 2016 hatte der Amtsinhaber den Staat gewonnen.
Biden kam am Freitagmorgen auf mindestens 253 der 270 Wahlleute, die er für einen Sieg braucht. Mit Georgia würde er nochmals 16 dazu gewinnen; Trump hingegen könnte ohne Georgia nicht mehr auf die notwendigen 270 Wahlleute-Stimmen kommen.
Im Weißen Haus erhob der Amtsinhaber einmal mehr den Vorwurf, die oppositionellen Demokraten wollten ihm den Wahlsieg "stehlen". "Wenn man die legalen Stimmen zählt, gewinne ich mit Leichtigkeit. Wenn man die illegalen Stimmen zählt, können sie versuchen, uns die Wahl zu stehlen", sagte Trump. Er bezog sich damit vor allem auf die auch drei Tage nach der Wahl vielerorts noch laufende Auszählung von Briefwahl-Stimmen. Diese waren mehrheitlich von Anhängern seines Herausforderers Joe Biden abgegeben worden, die wegen der Corona-Krise nicht in die Wahllokale gehen wollten.
Bei seinem Auftritt im Presseraum des Weißen Hauses legte Trump keinerlei Belege für seine Betrugsvorwürfe vor. Mehrere Fernsehsender unterbrachen die Live-Übertragung nach kurzer Zeit, als erstes der Sender MSNBC, der die Notwendigkeit anführte, Falschaussagen des Präsidenten richtigzustellen.
Der Präsident steht nach der Wahl vom Dienstag mit dem Rücken zur Wand: Er hatte am Freitagmorgen nur 214 der 270 für einen Sieg notwendigen Wahlleute beisammen.
Während in Georgia die ganze Nacht durchgezählt wurde, rückte auch die Entscheidung in den Schlüsselstaaten Arizona, Nevada und Pennsylvania näher. In all diesen Staaten wurde bisher noch kein Sieger ausgerufen - die Rennen sind so knapp, dass die Entscheidungen von einigen tausend bis zehntausend Stimmen abhängen. In Pennsylvania, wo Trump anfangs weit vorn gelegen hatte, holte Biden auf und lag nur noch rund 18.000 Stimmen hinter Trump. In Nevada wiederum führte Biden knapp.
Trumps Wahlkampf-Team klagte angesichts der Entwicklung in mehreren Staaten gegen die Auszählung. Der Präsident hatte sich bereits in der Wahlnacht zum Sieger erklärt und juristische Schritte bis hin zum Obersten Gerichtshof angekündigt, was auch international auf Kritik gestoßen war und als Angriff auf den demokratischen Wahlprozess gewertet wurde.
Trumps ältester Sohn heizte die Stimmung noch zusätzlich an: "Das Beste für Amerikas Zukunft wäre es, wenn @realDonaldTrump über diese Wahl in den totalen Krieg zieht, um all den Betrug, das Schummeln (...) offenzulegen, das seit viel zu langem anhält", schrieb Donald Trump Junior auf Twitter. Twitter verbarg die Kurzbotschaft wie schon bei anderen Tweets seines Vaters hinter dem Warnhinweis, dass der Inhalt "umstritten und möglicherweise irreführend" sei.
Zwar stellten sich prominente Republikaner wie Lindsay Graham hinter Trump, es gab aber auch Kritik am Vorgehen des Präsidenten. Der Abgeordnete Will Hurd nannte Trumps Aufruf zu einem Stopp der Stimmauszählung "gefährlich und falsch".
Biden rief seinerseits zur "Ruhe" auf. Er habe "keine Zweifel", dass er nach Auszählung aller Stimmen die Wahl gewinnen werde, sagte er. Nach Trumps Äußerungen schrieb Biden auf Twitter: "Niemand wird uns unsere Demokratie wegnehmen."
Vor mehreren Wahlzentren in den USA versammelten sich aufgebrachte Trump-Anhänger. In Phoenix in Arizona führte der rechtsextreme Verschwörungstheoretiker Alex Jones eine schwer bewaffnete Gruppe an. In Las Vegas forderten Trump-Unterstützer, dass sie die Wahlzettel sehen wollten. Und in Pennsylvania wurden vor einem Wahlzentrum zwei bewaffnete Männer festgenommen.
by Von Sebastian SMITH und Shaun TANDON