Im Vertrauen auf den Sieg bei der US-Präsidentschaftswahl hat der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei einer feierlichen Ansprache die Menschen zur nationalen Einheit aufgerufen. "Es ist an der Zeit, dass wir als eine Nation zusammenkommen, um zu heilen", sagte Biden am späten Freitagabend (Ortszeit) in seiner Heimatstadt Wilmington im Bundesstaat Delaware. Derweil konnte der ehemalige Vizepräsident seinen Vorsprung vor Amtsinhaber Donald Trump im Südstaat Georgia weiter ausbauen. Der Oberste Gerichtshof lehnte einen von der Trump-Kampagne verlangten sofortigen Stopp der Auszählung in Pennsylvania ab.
Biden zeigte sich in Wilmington zuversichtlich, dass er die Wahl am Dienstag gewonnen habe, verzichtete aber darauf, sich bereits zum Sieger auszurufen. Die Stimmenauszählung dauerte knapp vier Tage nach der Abstimmung weiter an. In den wichtigen Schlüsselstaaten Pennsylvania, Georgia, Arizona und Nevada lag der ehemalige Vizepräsident am Samstagmorgen vor Amtsinhaber Trump. Die US-Sender riefen aber bis zum Samstagmorgen (Ortszeit) keinen Wahlsieger aus, weil die Rennen zu eng waren.
Die bisherigen Zahlen zeigten "klar und überzeugend: Wir werden diese Wahl gewinnen", versicherte Biden. Er sei sicher, in den Bundesstaaten Arizona und Nevada den Sieg davonzutragen und sei auf bestem Wege, 300 Wahlleute zu gewinnen - deutlich mehr als die für den Gesamtsieg notwendigen 270 Wahlleute.
Gleichzeitig rief der Kandidat zur Geduld auf, solange die Auszählung dauere: "Vergesst nie, diese Stimmzettel sind nicht nur Zahlen, sie repräsentieren abgegebene Stimmen. Diese Männer und Frauen, die ihr Grundrecht ausgeübt haben."
Amtsinhaber Trump hat seit dem Wahltag mehrfach den Sieg für sich in Anspruch genommen und ohne Beweise angeblichen Betrug angeprangert. Der Präsident wirft den Demokraten vor, ihm die Wiederwahl "stehlen" zu wollen, und will bis vor den Obersten Gerichtshof ziehen.
Im Streit um Briefwahlstimmen in Pennsylvania mussten der Präsident und seine Republikaner allerdings vorerst einen Rückschlag hinnehmen. Pennsylvanias Republikaner hatten den Supreme Court in Washington am Freitag (Ortszeit) aufgerufen, per Eilanordnung eine Zählung von nach dem Wahltag eingegangenen Briefwahlzetteln zu untersagen. Verfassungsrichter Samuel Alito ordnete an, dass diese Stimmzettel zwar von den anderen abgesondert werden müssen, sie dürfen aber weiter ausgezählt werden.
In Pennsylvania hatte Biden zuletzt mehr als 28.800 Stimmen Vorsprung vor Trump und in Nevada mehr als 22.600 Stimmen. In Georgia baute er seinen Vorsprung auf rund 7200 Stimmen aus. In Arizona schrumpfte Bidens Vorsprung, betrug aber immer noch knapp 30.000 Stimmen.
Nach jetzigem Stand kommt Biden auf mindestens 253 der 270 Wahlleute, die er für einen Sieg braucht. Trump hat derzeit 213 oder 214 Wahlleute sicher.
Ein Sieg in Pennsylvania mit seinen 20 Wahlleuten würde Biden für den Gesamtsieg reichen. Ohne Pennsylvania käme der frühere Vizepräsident mit Arizona (elf Wahlleute) und Nevada (sechs Wahlleute) genau auf die notwendigen 270 Wahlleute-Stimmen und mit Georgia (16 Wahlleute) und Nevada auf 275 Stimmen.
Die Stimmenauszählung dauert in diesem Jahr wegen der massiven Zunahme der Briefwahl infolge der Coronavirus-Pandemie besonders lange. In den Tagen nach dem Wahl-Dienstag hatte es mehrfach so ausgesehen, als könnten die US-Sender bald einen Sieger ausrufen - dies bewahrheitete sich aber nicht.
Biden kündigte bei seiner Rede in Wilmington an, im Falle seines Wahlsieges unverzüglich gegen die Corona-Krise vorzugehen. Jeder solle wissen, "dass wir ab Tag eins unseren Plan umsetzen werden, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen", sagte Biden.
Die USA sind das am schwersten von der Pandemie getroffene Land der Welt. Mehr als 9,7 Millionen Menschen haben sich mit dem Coronavirus angesteckt, über 236.000 Menschen starben.
Unterdessen meldeten mehrere US-Medien, dass sich Trumps Stabschef Mark Meadows mit dem Coronavirus infiziert habe. Er sei erstmals am Mittwoch - einen Tag nach der Präsidentschaftswahl - positiv auf das Virus getestet worden, berichtete die New York Times.
by Angela Weiss